Nur Sekunden dauerte es, und das jeweilige Bild der Figurengruppe mit Maske verschwand wieder in der Dunkelheit. Ein neues tauchte auf, diesmal war das Mädchen größer, der Vater Witwer geworden, die neue Frau, ihre Exaltiertheit sieht man ihr schon an, streckte ihm den Arm entgegen. Zum Schluss ist der starke Mann alt, siecht im Rollstuhl erbärmlich dahin, während Frau und Stieftöchter ihr furchtbares Regiment aus plumper Grausamkeit gepaart mit lebhaften narzisstischen Abhängigkeiten zelebrieren. Bestechend: Jeder Short Cut der „Cinderella“-Neufassung am Staatstheater Nürnberg endete und begann in Bewegung. Die Bauart der Szenen, wie ein Karussell des Lebens im Kreis angeordnet, kennt man zum Beispiel von Terrence Malicks Film „To The Wonder“. Nur verblüffen sie hier als Beginn des neuen Handlungsballetts von Goyo Montero. Ein starker Einstieg für „Cinderella“, von Serge Prokofjew komponiert und 1945 in Moskau am Bolschoi-Theater uraufgeführt. Die Protagonistin, die im Märchen wie auch nun auf der Bühne in Nürnberg, zum Schluss vom Prinzen erkannt, verloren, gesucht und gefunden werden darf, erscheint gleich daraufhin im Kamin, überdimensional von Verena Hemmerlein gebaut. Eher ein verwildertes Kätzchen bei schlechten Eltern, mehr Tier als Mensch, missachtet, gepeinigt, allein. Sakaya Kado tanzt die Premiere mit Wucht. So angstfrei, wie sie die vielen Nuancen die Monteros „Cinderella“-Figur biografisch, psychisch und seelisch ausmachen, im Rahmen eines dynamischen, zeitgenössischen Tanzstils entfaltet, agieren auch ihre drei Kollegen Saúl Vega, Oscar Alonso und Carlos Lázaro in den Rollen der tyrannischen Restfamilie. Preisverdächtig, mit welcher Ausdauer, Virtuosität und Spielfreude sie das Stück, für das Angelo Alberto gemeinsam mit Montero ein kongeniales, Freude verschaffendes Kostümbild geschaffen hat, mit hervorbringen.

Ein großer Wurf ist sie, diese Nürnberger „Cinderella“-Inszenierung, auch wenn man bis jetzt einen, vielleicht den wichtigsten Grund unerwähnt ließ: Goyo Montero erzählt das Märchen von „Aschenputtel“ aus der Perspektive eines Hinterfragens der Kategorie Zeit und, damit verknüpft, von Wahrnehmung. In welche Geschichte tritt welche Bühnenfigur ein und wer ist sie außerhalb von ihr? Was ist Traum, was Illusion und was scheint real? Das Erlebnis des Durcheinanderpurzelns und Verunsicherns des Erzählten ist das tiefe, elektrisierende Erlebnis bei dieser Premiere.

 

Erschienen am 28.12.2013 in der Landshuter Zeitung und auf www.accesstodance.de