Damian Gmür und Hannes Hametner schaffen derzeit neue Werke für das Theater Pforzheim. Der Choreograf und der Regisseur teilen die Sorge um den Zustand der Welt und umkreisen mit ihren Neuschöpfungen Verlusterfahrungen, aber auch das Potenzial einer Neubesinnung. Während Gmürs Tanzstück „Wolken die uns nicht tragen“ im Rahmen von TANZ PUR im Gasometer auf die Bühne kommt, hat Hametners neue Textfassung und Neuinszenierung „Fahrenheit451“ von Ray Bradbury heute Abend Premiere im Grossen Haus. Alexandra Karabelas hat sich mit den beiden unterhalten.

Herr Gmür, in was für einer Zeit leben wir?

DG: Ich nehme war, dass die Menschen zur Zeit eine gewisse Entwurzelung beschäftigt, als ob sie den Halt verlieren weil sich vieles auflöst.

Wie meinen Sie das?

DG: Die Kommunikationskanäle haben sich vervielfältigt. Man spricht über soziale Medien gleichzeitig mit vielen Leuten. Viele um einen leben in digitalen Paralleluniversen. Sie sind physisch präsent, aber mental abgedriftet. Das löst, zusammen mit der Globalisierung, eine Urangst aus, die man aber schwer fassen kann, empfinde ich.

Äußere Zeichen sind ein stark gewordener Nationalismus. Bisher geltende Werte müssen wieder neu verhandelt werden. Wie nehmen Sie als Künstler Verantwortung wahr?  

DG: Indem ich ehrlich mit mir selbst bin, am Leben teilhabe und diese Entwicklungen mitverfolge. Ich kann ihre Dynamik und ihren Spirit spüren und lasse das in meine Arbeit einfließen, um es zu verstehen – als Choreograf und Trainingsleiter am Theater Pforzheim.

Welches Potenzial hat denn hier der Tanz?

DG: Tanzen ist ein Ventil. Es ermöglicht, mit tieferen Schichten im eigenen Wesen in Kontakt zu kommen. Man erfährt sich im Tanz umfassender – egal ob ich selbst tanze, choreographiere oder mir Tanz ansehe. Tanzen ist eine ganzheitliche Kunst. Man ist mit dem Körper, dem Geist und den Emotionen dabei und kann sich tief mit sich und der Welt auseinandersetzen. Tanz kann Dinge beschreiben, die man schwer in Worten fassen kann. Er kann Urgefühle hervorbrechen lassen und gut transportieren. Er spiegelt uns.

Was macht Ihr neues Stück „Wolken die uns nicht tragen“ notwendig?

DG: Es gibt den berühmten „Point of No Return“, d.h. wenn eine Entwicklung, ein Prozess, egal wo einmal begonnen hat, ist er nicht mehr aufzuhalten – im Guten wie im Bösen. Wir erleben das mit der Zerstörung unserer Umwelt, aber auch in politischen, zwischenmenschlichen und körperlichen Prozessen. Was auf die Welt kommen will, wird geboren werden. Davon erzählt mein neues Stück.

Welche Perspektive war für Sie am Wichtigsten?

DG: Der Tanz zeigt mir, wie Gefühle und Energien funktionieren, und indem ich eingeladen und herausgefordert bin zu bestimmen, wie sich Dinge für mich anfühlen, gewinne ich Autonomie zurück. Mich interessiert mit den Tänzern von daher vor allem wie sich die einzelnen Bewegungen anfühlen und nicht wie sie aussehen. Das ist eine völlig andere Perspektive als wenn ich von außen diktiert bekomme, wie etwas auszusehen hat, was wann hübsch oder hässlich sein, wertvoll oder überflüssig. Diese Zurückgewinnung einer Autonomie über sich selbst darüber, wer man ist und wie man zu sein und auszusehen hat, das ist eine Befreiung gegenüber aktuellen Entwicklungen.

Herr Hametner, wie empfinden Sie unsere Zeit?

HH: Naja, ich nehme schon wahr, dass gefühlt seit zehn Jahren das Wort von der Krise dominiert. Das Wort taucht überall auf – wenn es um Europa geht, um Armut und Reichtum, um das Regieren, die Gesellschaft. Gesellschaftlich produktiv oder gar visionär ist das nicht. Das beschäftigt mich und es beunruhigt mich.

Wie reagieren Sie darauf als Regisseur?

Kann da Theater helfen?

HH: Theater kann leisten, Menschen zu sehen und Möglichkeitsräume öffnen. Die Theaterkunst sensibilisiert uns und gibt uns unser Eigenstes zurück, indem wir mitfühlen, mitleiden, mitlachen, miterleben. Das läuft meistens über das Erzählen großer Geschichten über einzelne Figuren in der Gesellschaft oder die Mechanismen in der Gesellschaft ausgesetzt sind.

Warum ist Guy Montag, Ihr Held in Ihrer neuen Inszenierung eine wichtige Figur?

HH: Guy Montag macht für uns die Erfahrung, dass er in einem goldenen Gefängnis lebt und von der Entwicklung der Welt und von sich selbst abgekoppelt ist. Er ist Feuerwehrwann und als solcher im Dienst einer kulturlosen Gesellschaft, in der das Lesen von Büchern verboten ist. Er muss sie verbrennen. In dem Moment, in dem er spürt, dass er etwas vermisst, ist er in der Lage, zu einem eigenständig denken Menschen zu werden. Meine Inszenierung fokussiert auf dieses Moment“.

Ray Bradbury, Autor von „Fahrenheit451“ hat also ein negatives Zerrbild der Gesellschaft gezeichnet, um etwas wachzurütteln?

HH: Ja, wir nähern uns einer Vision einer kulturlosen Gesellschaft und stellen das zur Diskussion.

Wie das?

HH: Wir verlegen Guy Montags Geschichte ins Private – und damit dorthin, wo es am meisten weh tut: In eine Paarbeziehung, eine Ehe. Und wir lassen spüren, wie eben der Rückzug in das private und persönliche Glück dann nicht mehr funktioniert, wenn dazu gehört, vor dem, was in der Welt passiert, die Augen zu verschließen. So können wir zeigen: Jeder Einzelne hat Einfluss auf das Geschehen und den Fortgang der Welt. Jeder Einzelne kann sich wieder seiner Verantwortung bewusst werden. Das andere ist langweilig, wenn ich nämlich immer sage, es waren die anderen. Viele spüren die Krise, aber die Verantwortung dafür geben sie anderen.

Was empfinden sie als Erfolg?

HH: Theater leistet immens wichtige kulturelle Bildung, und „Fahrenheit451“ ist ein Stück auch explizit für junge Menschen. Mir würde es Hoffnung geben, wenn die Zuschauer ins Theater kommen, weil ich es als Künstler geschafft habe, etwas zu erzählen, was relevant ist

 

Erschienen in der Rheinpfalz am 18. April 2019