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„Das siebte blau“ – bis heute hält Christian Spuck, seit 2012 Ballettdirektor am Opernhaus Zürich, die Bedeutung des surreal anmutenden Titels seines vor 16 Jahren kreierten Stücks für das Stuttgarter Ballett unter Verschluss. Es ist ein, wie er sagt, im Grunde „ekklektisches Werk“, zusammengesetzt aus drei Teilen, von denen der mittlere der rätselhafteste ist: Vor einer weißen Stellwand tanzt eine Ballerina im nachtblau-schwarzen Trikot von einem Partner zum nächsten – ein eigentümlicher, hochmusikalischer Reigen zu Schuberts berühmtem Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“; ein Tanz wie ein zartes Nachtschattengewächs in den Zwischensphären, dort, wo Leben und Tod zugleich stattfinden. Unvergessen in diesen Parts: Katja Wünsche und Julia Krämer, in deren präzise körperliche, auf den Punkt kommende Athletik sich große Melancholie und eine seelische Zartheit gemischt hatte, an der man heutige Interpretationen zu messen hat.

Christian Spuck befand sich, als er „das siebte blau“ kreierte  – wie so oft wenn Künstler herausragende Werke schaffen, die Eingang ins zeitgenössische Repertoire finden –  in einer herausfordernden Phase seines Lebens, erinnert er sich. Wenn er heute das „das siebte blau“  ansehe, „ist es“, erzählt er, „eine Begegnung mit mir selbst in jener Zeit“. Ein Werk, das er so heute nicht mehr schaffen würde, und er nennt einen schlichten Grund: „Heute werden von mir „Blockbuster“ gewünscht, die Abendfüller.“ „das siebte blau“ aber sei in jeder Hinsicht ein Gedicht, inhaltlich und bewegungsmotivisch unter anderem inspiriert von den Zeilen „Der Tod und das Mädchen“ von Matthias Claudius aus dem 18. Jahrhundert und seinen eigenen Gefühlen und Empfindungen damals. Er spüre große Freude darüber erleben zu können, wie sich die Choreografie einer anderen Zeit und vor allem: anderen Menschen anzupassen vermag. „Die Choreografie muss den Menschen entgegenkommen und nicht umgekehrt“, sagt er.

Allein deswegen lohnt sich ein Besuch des neuen Abends „Kammertanz“ in diesen Spielzeitwochen am Staatstheater Nürnberg, wo ausser der Interpretation von „das siebte blau“ durch das Nürnberger Ensemble auch William Forsythes „Approximate Sonata“ aus dem Jahr 1996 und die Uraufführung „Four Quartets“ von Ballettchef Goyo Montero auf dem Programm stehen. Es ist ein wunderbarer und mutiger Abend, den das Ballettensemble hier schultert. Denn seit acht Jahren geprägt von der dynamischen, bodenzentrierten, kraftvoll-fließenden Bewegungssprache des Spaniers, erobert sich das Ensemble, das in dieser Spielzeit viele Abschiede das Repertoire prägender Künstler zu verarbeiten hatte, so unter anderem von Saúl Vega und Marina Miguélez, in halb neuer Besetzung nun den Weg zur Neoklassik des Bühnentanzes – etwas das man in der Art selten bei einem Ensemble erlebt. Oft wird der Weg anderherum beschritten: Neben der Pflege des modernen klassischen Tanzes bemühen sich die großen Ballettensembles an den Staatsheatern darum, kontinuierlich zeitgenössische Signaturen zu realisieren, was den einen mehr und den anderen weniger gelingt. Besonders macht „Kammertanz“ auch weil sich Ballettchef Montero als offen und verletzbar offenbart dabei, wie er sich selbst herausfordert.  Schließlich wird das von den großartigen zeitgenössischen Inszenierungen der Erzählballette und vom kraftvollene Vokabular verwöhnte Nürnberger Publikum damit konfrontiert, sich auf neue Seherlebnisse einzulassen und, en passant, zeitgenössische Tanzgeschichte kennenzulernen.

Goyo Montero hatte lange an der nun erlebbaren Zusammenstellung des Abends gearbeitet. Jahrelang hatte er sich für seine Compagnie gezielt um „das siebte blau“ von Spuck, das nun erstmals außerhalb des Stuttgarter Netzwerks Eingang in ein Repertoire fand, bemüht. Bislang war es nur beim Stuttgarter Ballett, dem Zürcher Ballett und dem Ballett Augsburg zu sehen, wo die ehemaligen Stuttgarter Tänzer Robert Conn und Yseult Lendvai seit 2007 die Fäden in der Hand halten.

Dass Montero gezielt um „das siebte blau“ warb, überrascht nicht. Das Werk stellt die Compagnie vor die beabsichtigten hohen Anfoderungen, nämlich eine präzise Linienführung in den Armen und Beinen hervozuholen, die Schnelligkeit aufzubauen, mit der die Bewegungsfolgen zu absolvieren sind, und eine starke Präsenz zu entwickeln ohne die das Werk seinen seelisch-emotionalen Ausdruck verlieren würde. Darüber hinaus geht die existenzielle Tiefe dieses Werks kongruent mit Monteros eigenen Themen und jener Tiefe, die er seit einigen Jahren  in all seinen Werken, vor allem seit „Nussknacker“ aus dem Jahr 2011, immer deutlicher umkreist: die Fragen nach den Grundlagen menschlichen Seins, die Begrenztheit durch den Tod, die daraus resultierende Grundmelancholie des Lebens,  aber auch die Bewusstheit vom Immerwährenden Sein, seiner regungslosen Stille, finden in „das siebte blau“ einen Widerhall.

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So ist die am Anfang des Dreiteilers stehende Uraufführung von Monteros eigenem Werk „Four Quartet“ vor allem im Zusammenhang des Abends zu bewerten. In Anlehnung an das, das musikalische Thema vorgebende „das siebte blau“ arbeitet auch der Ballettchef mit einem Kammermusik-Ensemble auf der Bühne und hat hierfür entsprechende Kompositionen ausgewählt: den zweiten Satz aus Brahms Streichsextett B-Dur op. 18 und Schuberts Streich-Quintett in C-Dur. Platziert auf hohen Podesten, die immer wieder verschoben und anders aneinander gereiht werden, bilden sie ein wichtiges Element der Inszenierung. Ungewohnt die Kostüme: Montero hatte sich mit hautengen Trikotanzügen in Blautönen an die neue neoklassische Ästhetik angepasst. Bei sich selbst ist er am Beginn des Stücks:  Sayaka Kado steht allein vorne am Bühnenrand und atmet sich mit den typisch rhythmitisierten Bewegungssetzungen hin zum Boden durch einen gesprochenen Text, eine alte Aufnahme des Dichters T.S. Eliot von dessen Gedicht „Burnt Norton“.  Was im Hinblick auf den Zuschauer gut gemeint ist und wie ein dramaturgisch durchdachter Prolog im Bezug auf den gesamten Abend fungiert, nimmt jedoch dem Tanz Kados Wirkungsmöglichkeiten. Ständig wandern die Augen des Betrachters nach oben, um den gewichtigen Text ja nicht zu verpassen, so dass im Erleben der körperlichen Ebene wichtige  Lücken entstehen.  Im darauffolgenden Teil ist Monteros Versuch, sich selbst Neuland zu erobern, am stärksten sichtbar. Seine Bewegungsflüsse sind auf die einzelnen Tänzer individualisiert abgestimmt – bislang eine eher ungewöhnliche Strategie bei ihm, sobald er außerhalb eines geschlossenen narrativen Kontexts arbeitet, und dementsprechend vorsichtig und allgemein ist er noch in der Bewegungsfindung und Platzierung der Tänzer im Raum. Stärke und Zug gewinnt sein neues Stück in jenem Moment in dem er wieder zu sich findet, zur Kreation der großen Bewegung, hervorgebracht durch ein Zusammenwirken der Gruppe, die die gleichen Bewegungen nachgeordnet vollzieht, im Reigen, in der Linie, in der Masse um einen Tänzer in der Mitte. In diesen Momenten wird das Bühnengeschehen nicht nur berührend und spannend, sondern man sieht auch wie Monteros ureigener Stil sich mit dem neoklassischen Setting zu verbinden vermag ohne dass er von sich abrücken muss. Inhaltlich reissen dann die über Lautsprecher gehörten poetischen Reflexionen über Tanz als etwas, was immer ist, nie aufhört, aus „dem stillen Mittelpunkt der Welt“ geboren, eine zweite Ebene über der ersten auf, jenen abstrakten Bewegungsbildern im sich permanent verändernden Raum. Wenn das Geschehen dann plötzlich wieder zu einer alleine still dastehenden Kado zurückfindet, ereignet sich nichts weniger als der Eindruck, die Zeit bliebe stehen und sei nie geflossen – ein Grundthema des Nürnberger Ballettchefs. Eindrucksvoll gegen Ende: Wie die Tänzerin in einem hohen, lichtdurchfluteten Rondell aus Podesten eingeschlossen bleibt und die Musiker über die Melodien spielen. An solche Seelenbilder, die das Thema Verlust und Übergang umspielen, schließt das sphärische Ende von „Approximate Sonata“ sowie „das siebte blau“, das, es sei bereits hier gesagt, superb von Sayaka Kado in der Hauptrolle getanzt ist, nahtlos an.

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Mit ihrer positiven und auch erdigen Ausstrahlung verleiht die Japanerin dem mittleren Teil des Stückes Leichtigkeit und fast Unbeschwertheit, eine „Diesseits“-Orientierung wenn man so will, was dem Ganzen aber keinen Abbruch tut, da die Ruhe, mit der das Ensemble den vorgängen Teil tanzt, die drei Pas de deux, bei der Teile des Körpers quasi im Bühnenboden verschwinden, dem Stück seine schöne Trauer lassen. Mit Bravour gelingen die großen Szenen zu Beginn und am Ende. Auch wenn die eine oder andere Hebung oder ein Fall über die Arme etwas gehetzt oder zu langsam erfolgen und das Ensemble noch stärker ins Werk hineinwachsen muss, brilliert es mit bewusster Präsenz, klaren inneren emotionalen Ausrichtungen und äußerst präzisen Momenten. Dass sich der Weg, den Montero eingeschlagen hat, lohnt, ist schließlich an der Interpretation von Forythes meisterhaftem, ironischem und minimalistischem „Approximate Sonata“ abzulesen. Esther Pérez, Sandra Guenin, Marina Sanchez, Natsu Sasaki, Christian Teutscher, Luis Tena, Max Zachrisson und Max Levy zaubern zäh, genau und profunde die spezifische Art der Bewegungs- und Körperführung von Forsythe in den Raum. Und doch fehlt ein winzig kleines, wichtiges Moment: Sie dürften sich, denkt die Betrachterin, noch mehr erlauben, mit dem, was zwischen ihnen ist, zu spielen, noch mehr zum Typ werden.  Der Horizont ist weit und auf ihm schimmern zwei „Ja“.

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Text: Alexandra Karabelas. Fotos: Jesus Vállinas. Erschienen am 12.05.2016 auf www.tanznetz.de