Eine Performance im Augenblick ihrer selbst und im Dialog mit den Anwesenden

Jai Gonzales hat in Heidelberg ein neues Tanzformat eröffnet. „openSTAGE“ nennt die Choreographin ihre Performance-Reihe. Darin sucht die künstlerische Leiterin vom UnterwegsTheater den offenen Dialog. Gemeinsam mit ihrem Team aus Tänzern, Musikern, Sängern und Videokünstlern sowie weiteren Gästen aller Kunstrichtungen, zettelt sie Dialoge an. Jeder, das Publikum inbegriffen, kann sich in diesen offenen Dialog einschalten.

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Mitten in der Performance „openSTAGE II“ öffnet einer der Akteure die Tür für den Notausgang. Draußen ist es hell, der Himmel und das Grün von Bäumen ist zu sehen. Für Sekunden ist die Tür der Rahmen dieses Bilds, bis die Geräusche der Außenwelt einfallen: Vogelgezwitscher, Abendstille und fernes Motorenrauschen. Erst dann haben sich die Augen von dem Schock erholt, haben den mehr oder weniger abgedunkelten Raum der voran gegangenen Performance vergessen und erblicken im hellen Lichtfleck der Tür die Außenwelt. Aber nur für einen kurzen Moment. Dann wird die Tür geschlossen. Und die Bühne tritt wieder als Ereignisraum in den Vordergrund. Jetzt, nach dieser abrupten Szene, wird den Zuhörern und Betrachterinnen auf ihren Plätzen erst bewusst, dass sie ein verletzbarer Raum ist, deren geschlossene Funktion, aufgebrochen oder unterbrochen werden kann.

Für die Choreographin und künstlerische Leiterin des Heidelberger Unterwegstheaters, Jai Gonzales, ist der Titel der Performance-Reihe „openSTAGE“ Idee, Konzept und Programm zugleich. Auf der offenen Bühne wird die gängige Theatersituation und die strikte Trennung von Zuschauerraum und Bühne aufgehoben. Auf der offenen Bühne treten unvorhersehbare Ereignisse ein, und die Akteure lassen sich von ihnen überraschen. Auf der offenen Bühne wird der Dialog gesucht. Dabei läuft für Jai Gonzales Kommunikation in alle Richtungen: Zwischen den Akteuren auf der Bühne  – Tänzer, Musikerinnen, Videokünstler, Sängerinnen und allen weiteren Kunstschaffenden, die als zukünftige Gäste die laufende Performance-Reihe erweitern. Zwischen Publikum und Künstlern – jede kann sich mit eigenen Ideen, jeder mit eigenen Assoziationen in das laufende Geschehen einklinken. Zwischen dem Publikum, das sich auch selber die Bälle zuspielen kann. „openSTAGE“ heißt, dass alle Seiten offen sind und von jedem Standort aus ein Dialog angezettelt oder weitergeführt werden kann. Es heißt jedoch nicht, dass sich aus Allem ein Dialog ergibt. Darüber hinaus sieht das Prinzip der „openSTAGE“ vor, keinen Dialog ins uferlose treiben zu lassen oder alles dem Zufall zu überantworten. Um dieser Balance gerecht zu werden – ein nach allen Seiten offener Dialog im Augenblick und ohne seine Festschreibung – übernimmt Jai Gonzales in ihrer choreographischen Konzeption die Rolle der Dirigentin. Abseits des Bühnengeschehens mischt sie am Pult Licht und Ton. Sie entscheidet unmittelbar während der Performance über die Dauer und Intensität der Mittel. Begibt sich als eine Art Korrektiv auch selbst auf die Bühne, um die Akteure aus ihrer Handlung zu lotsen, zeigt ihnen das Ende eines Dialogs an und lässt dadurch einen neuen entstehen.

Allem Möglichen lässt sich im Dialog nachgehen, Anhaltspunkte ergeben sich aber dennoch durch die künstlerischen Mittel. In „openSTAGE II“ wirft der Videokünstler Nils Herbstrieth graphische Linien, die er während der Vorstellung am Computer erzeugt, erst auf ein weißes Rechteck im Bühnenhintergrund. Später lässt er die Gitterstrukturen durch den Raum wandern, vergrößert oder verkleinert sie und löst die Bewegungen der Tänzer in ihnen auf. Im zugeschalteten Licht wiederum schwinden die graphischen Elemente und lassen andere Medien, den Gesang von Inga Bachman etwa, hervor treten. Sie singt über gestern, heute und morgen, ihr paradoxes Verhältnis zueinander: „Gestern kann nur heute sein und heute ist schon vorbei.“ Das Lied, das die Chansonsängerin auf ihrer Gitarre begleitet, trifft auch ins Schwarze der Performance-Zeit. Sie kennt ihr „Jetzt“, ist bestrebt immer im Augenblick zu sein und hängt dem Gewesenen nicht nach. Darin liegt ihr Reiz, denn von der Zukunft weiß sie noch nichts. Vielmehr öffnet sie sich der Überraschung immer wieder aufs Neue.

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„You have to have a certain kind of temperament to talk to a door“, lässt die Tänzerin Catherine Guerin verlauten. Ihre Textschnipsel flickern und flackern wie die grellen Linien von Herbstrieth durch den Raum, sind akustische Ohrenmomente. Ebenso paradox wie zutreffend, vermitteln die Sätze auch immer das, was die Performance als Kunstereignis und den offenen Dialog als Strukturprinzip ausmachen: Sich der Einübung von vorgefertigtem Material zu entziehen, den Ereignissen freien Lauf zu lassen, sie nicht festzulegen oder einzufrieren. Greift die Dirigentin ein oder verändert sie den Modus des Augenblicks, bewahrt sie das Geschehen vor der Überreizung. Der Reiz liegt nicht im überstrapazierten Moment, sondern im wachen Austausch. „Welcome to the show that never ends“, kommentiert die Künstlerin Guerin den Verlauf. Was hier passiert, verdankt sich der Konzentration aller Teilnehmer. Immer aufmerksam und in der Verfassung, jederzeit reagieren zu können. So setzen die Akteure einen Baustein nach dem anderen ins performative Setting und halten den Dialog offen. An diesem Abend wird die Show nur angehalten, um an einem anderen Abend fort gesetzt zu werden.

„openSTAGE“ geht am 8. Mai 2016 um 19.30 Uhr weiter. Am 12. Juni 2016 trifft die Performance-Reihe auf Heidelberg als UNESCO City of Literature. In dieser Kooperation geht es um Ossip und Nadeschda Mandelstam.

www.unterwegstheater.de

Nora Abdel Rahman. Fotos: Günter Kraemmer