Ziel: Deutschland. Das Nederlands Dans Theater (NDT), zuhause im kulturell versierten Den Haag, ist wieder zu den Nachbarn aufgebrochen. Bevor die Compagnie in Berlin gastieren wird, machte sie im Ludwigshafener Pfalzbau-Theater Station. Zum Glück. Das Weltklasse-Ensemble, das seit Jahrzehnten international Standards setzt und pflegt, öffnete im ausverkauften Tanztempel der Stadt sein erstklassiges Portfolio an herausfordernden Ästhetiken, formvollendeten, innovativen Bewegungssprachen und berührenden Kunstwerken – „Scheitern“ im kleinen Stil inbegriffen.
So betrat mit dem Eröffnungsstück „Proof“ aus dem Jahr 2015 des rumänischen Choreographen Edward Clug ein edel gearbeitetes Tanzstück die Bühne. Gegen Ende hin zerbröselte es im musikalisch dahinschwelgenden Ich des Künstlers anstatt gestochen scharf auf den Punkt zu kommen. Gut angefangen hatte es. Eine Szenerie, wie die digitalen Vordenker sie leben: Männlein wie Weiblein, smart in engen Hosen und schmalen Oberteilen, agieren stark, unemotional und auf Augenhöhe in einem puristisch leeren Raum. Postgender sozusagen. Und immer in Bewegung, auch wenn sie stehen. Zitternd. Zum betörenden Beat der Songs von „Radiohead“, Clugs Lieblingsband, scheint die Virtuosität ihrer Bewegungsfolgen unermesslich. Oft vom Oberkörper ausgehend, werden Bewegungen der Arme und Beine initiiert, die sich polyzentrisch in Bögen, Kreise und Drehungen hineinverschieben, um in wackelnden Köpfen, merkwürdigen Laufschritten oder Händen Halt zu finden, die wie Schaufeln durch die Luft mäandern. Immer wieder tun sich die Tänzer als Zwillinge zusammen, als Körperemblem Yin und Yan, als verhandelndes Paar. Trefflich entstehen abstrakte Bilder jener neuen Menschen, die technische Vernetzung in ihr Körperbewusstsein gehoben haben. Über ihnen wölbt sich ein milchiger Planet. Es geht um Schöpfung, um Kreation und um eine andere Seite des Verstandes, sinniert man, den immer dominanter werdenden Liedtexten folgend. Später entpuppt sich der Planet als Zeppelin, der die Bühne füllt. Ein Tänzer betritt ihn und nimmt schemenhafte Umrisse anderer Körper in der Außenwelt wahr. Befruchtung? Mutterbauch? Seele im Körper? Das Stück dümpelt ab hier in die Oberflächlichkeit simpler Bilder ab, und man ist verloren. Clug wollte beim Musikhören ein Ich finden, das er noch nicht getroffen habe, ließt man im Programmzettel nach. Dem Zuschauer geht es ähnlich.
Wo jener scheitert, gewinnt Marco Goecke, seit 2013 Hauschoreograph des Nederlands Dans Theater und einer der wichtigsten Künstler, den Deutschland in den letzten zwanzig Jahren hervorgebracht hat. Wer genau schaut, sieht in den tiefen Schichten von Goeckes einzigartiger, grenz-überschreitender Bewegungssprache die stilistischen Errungenschaften eines Jirí Kylián, der wiederum in den 1980er und 1990er Jahren als Leiter des NDT die europäische Choreographie stark beeinflusst hat. Und man greift nicht zu hoch, wenn man anhand der deutschen Erstaufführung von „Woke Up Blind“ nun begreift, dass Goecke den tschechischen Meisterchoreographen stilistisch überwunden hat ohne ihn zu „töten“. Künstlerisch manifestiert sich „Woke Up Blind“, 2016 kreiert, auch als betörende Hommage an den 1997 verstorbenen amerikanischen Songschreiber Jeff Buckley. Ein Nachtstück, wieder einmal, das Jorge Nozal, wie ein Löwe fauchend und seinen nackten Oberkörper Atem tanzen lassend, eröffnet und auch beendet. Goeckes Impulse für seine ins Leben treibenden Bewegungen kommen aus den dunklen Löchern in Geist und Seele. Und sie formen sich auch hier zu einer ästhetischen Folge virtuoser Bilder, die obwohl abstrakt, jenseits des Sprachraums im Innersten verständlich werden. Die Höhepunkte markieren zwei zärtliche Berührungen zwischen jungen Menschen am Anfang der Liebe. Meisterhaft ist die klare Positionierung von Goeckes Tanz zu Buckleys tief in den Bauch gehenden Songs. Goecke teilt seine Begeisterung für die Musik eben nicht mit dem Publikum, sondern hält Tanz und Musik in einer Spannung zueinander.
Mit einem Opus Magnum wurde der Tanzliebhaber schließlich am Ende des grandiosen Gastspiels belohnt. Die Kunst von Paul Lightfoot, aktueller Leiter und Chefchoreograph des NDT, erwies sich als spannender Kontrapunkt zu Goeckes Ästhetik – auch weil Lightfoot die Ästhetik des Vorgängers Kylián bewahrend in die Gegenwart hinüberträgt, ohne eine eigene Handschrift einzubüßen. Lustig gestaltete sich sein vierminütiges Duett auf Worte von Gertrude Stein: „Shutters Shut“. Sein „Slow Motion“, gemeinsam kreiert mit Sol Léon, vereinte schließlich großartige Videokunst, Verweise auf die niederländische Malerei, und Bewegung in ihrer kunstvollen Verlangsamung. Fein komponierte Gruppenbewegungen um Ruhepunkte herum verbinden sich mit einer rätselhaften Suche nach Verbindungen zwischen Vergangenheiten und Gegenwart. Immer wieder finden die Tänzer wie Kraniche zusammen um ihren Erinnerungen zu folgen, die sie doch nicht entschlüsseln können. Feiner Sandstaub auf der Bühne bedeckte die Körper und zerstäubte in den Filmen. Die Vorhänge heben sich und das Theater im Theater zeigt sich von seiner nackten Seite. Tosender Applaus.
Autorin: Alexandra Karabelas, erschienen in der Rheinpfalz am 25.11.2017
Neueste Kommentare