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Gemüse bei zu hohen Temperaturen zu dünsten, zerstört die Nährstoffe und droht zudem die Gefahr, anzubrennen. Versucht man hingegen Milch auf Stufe eins zum Kochen zu bringen, schaltet man irgendwann aus Frust den Herd aus. So in etwa geht es einem mit dem neuen Stück von Edan Gorlicki. Der Wahl-Heidelberger – dessen Arbeiten dort übrigens in den vergangenen zwei Jahren bedauerlicherweise so gut wie gar nicht zu sehen waren, weil die einzig mögliche Bühne für die freie Szene in privaten Händen liegt und dort alles aussortiert wird, was dem eigenen Tanzverständnis und -geschmack abträglich scheint – spielte gut 20 Kilometer weiter im neuen EINTANZHAUS von Eric Trottier und Daria Holme in Mannheim auf. „Lucky Bastards“ nennt der ehemalige Tänzer u.a. von Itzik Galili sein neues Stück. Es soll an all jene erinnern, die aus irgendeinem Grund auf der Welt dort, wo sie gerade leben, nicht mit jenen am Tisch sitzen, die sagen wo es lang geht. Denn sie haben etwas an ihrem Körper oder in ihrer Biografie, was zum Stigma gerät und eben die Speisenden in der Komfortzone stören könnte. Und das sind, Stand der Soziologie heute, praktisch irgendwo alle: die Ungeliebten, die Schwulen, die Heimatlosen, die Vertriebenen, die Geschiedenen, die Staatenlosen, die Frauen, die Kranken, die geistig oder körperlich Behinderten, die Missbrauchten, die Bedrohten, die Verfolgten, die Armen und so weiter.

Und damit das Publikum wirklich fühlt und versteht, um was es geht, wird man gleich zu Beginn des Stückes seiner Freiheit beraubt, sich selbst seinen Platz wählen zu dürfen und auch jener, wann man sich setzen möchte. Stattdessen wird man in Gruppen eingeteilt, muss die Schuhe ausziehen, darf die aber nicht stehen lassen, sondern soll zu einem bestimmten Zeitpunkt erst auf einen Platz, der dann aber in der Bank, selbst gewählt werden kann. Nach 90 Minuten erfolgt dasselbe Spiel. Man wird sozusagen selektiert von anderen Zuschauern. Diese strecken den Finger aus, picken einen aus der Masse und raus aus dem Saal. Zur Halbzeit spielte man dann noch kräftig mit beim Bestimmen relativen Unglücks per Handzeichen: „Ist es besser geschieden zu sein oder kinderlos“? „Besser krank oder arm?“ – „Besser vertrieben oder staatenlos“. Das alles tut nur ein wenig weh, so wie wenn man sich ein wenig am Wein verschluckt, aber schlimm ist es nicht. Man durfte ein wenig mitreden, kurzweilig, konnte sehen wie die anderen entscheiden. Und man gehörte an diesem Abend ja dazu: Man sitzt im Theater. Und nicht draußen. Wie die Obdachlosen.

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Und man verdrängt bei alledem den Gedanken dass hier ein aus Israel stammender Choreograph der jungen Generation in Deutschland arbeitet, der vielleicht sehr viel zu dem schweren, berechtigten Thema sagen könnte, jedoch geradewegs vor lauter Nettigkeit den Zug verpasst. Gorlicki ist, ähnlich wie einer seiner Lehrmeister Galili, der die Manipulation des Zuschauers liebt, dabei ein ziemlich kluger Kopf. Das zeigt diese Uraufführung. Seine Bühnenwerke, so auch „Lucky Bastards“, haben einen stark konzeptionellen Ansatz und spielen mit den wenn auch mittlerweile überholten postmodernen Strategien der Inszenierung, indem sie, hier besonders, die Partizipation des Zuschauers auf der Bühne hochhalten, ruhiges Storytelling und Arabic Singing durch eine marrokkanisch-niederländische Sängerin zelebrieren (wunderschön: Karima el Fillali), die von ihrer Vergangenheit als Scheidungskind erzählt, und aktuelle Massenkunstformen miteinbeziehen – hier Freestyle Rap und Human Beatboxing, herrlich vorgetragen von Tobias Borke und Philip Scheibel – kalte, da viel auf Distanz gehende Ironie, inbegriffen.

Bis auf wenige Momente vollzieht das Stück, das er mit seiner Dramaturgin Eva-Maria Steinel auch eine „Gala“ nennt, seine Sinnproduktion insgesamt über die gesprochene Sprache. Getanzt, in drei Duetten, oder bewegt wird, was zuvor erzählt wurde. Die Länge der getanzten Sequenzen, die vor allem aus in Lichtquadrate gesetzte Bewegungssequenzen bestehen, wechselt ab von sehr langsam bis sehr schnell. Die Sollbruchstelle liegt ungefähr in der Mitte des Stückes. Michelle Cheung, die schon in der freien Szene für Ihre Fähigkeit bekannt ist, expressiv tanzen und brüllen zu können, tat genau dieses. Sie tanzte und brüllte, weil sie zuvor, im Gegensatz zu den anderen, von Philip Scheibel, der Human Beatbox, nicht gesehen wurde. Jedes Mal wenn sie auch versuchte, wie ihre Kollegen Evandro Pedroni und Jasmine Ellis, mit ihrem Tanz dessen Aufmerksamkeit zu erhaschen, um in einen Bewegungs-Musik-Dialog zu kommen, der überraschende Momente beinhaltet, wandte der sich frustriert ab. In diesem Moment öffnet sich quasi ein Krater und man blickt in den Abgrund einer verlassenen oder geschiedenen Frau, die vielleicht deswegen dieses Schicksal erleidet weil sieErfahrungen des Übersehens-Werdens in ihrer Kindheit nicht aufgearbeitet hat. Doch anstatt Cheung weggehen oder in ein kraftvolles, ausdrucksstarkes Trio mit den anderen gleiten zu lassen, verstummt sie, muss sich anschauen lassen, die Tränen trocknen und wieder Bewegungsskulpturen vollziehen.

Der einzige spannende, da eben nicht lesbare Moment am Ende besteht darin, dass Evandro Pedroni sich alleine in einem Haufen silberner Glitzerpapierchen rollt und quält, in feinem Dialog mit Scheibel. Das sieht verdammt einsam aus. Es ist hier etwas zu sehen. Zu spüren. Vielleicht traut sich Gorlicki in seinem nächsten Stück, wirklich etwas von sich selbst zu zeigen. Verbindlich zu werden. Denn das braucht die Welt. Nett sein können alle.

Autorin: Alexandra Karabelas, erschienen auf www.Tanznetz.de am 7.12.2017