Sie löst unmittelbar Gänsehaut aus: Die berühmte, schicksalshafte Tonfolge der Habanera aus Georges Bizets Oper „Carmen“. Sie repräsentiert alles, was Figur und Schicksal der kraftvollen, fast animalisch-sinnlichen Außenseiterin ausmachen: ihren spannungsvollen Auftritt, ihre Lebenslust und ihr Bewusstsein für innere Freiheit. Es wird sie am Ende, so die Erzählung, das Leben kosten.
In Yuki Moris Erarbeitung der unter die Haut gehenden, von Prosper Mérimée 1847 veröffentlichten Novelle erklingt das Habanera-Motiv erstmals als Übergang zwischen zwei Kapiteln, in denen er jetzt „Carmen“ als Tanzstück auf die Bühne des Nationaltheaters Mannheim gebracht hat. Diese zweiteilige Struktur aus einem Prolog auf der einen Seite auf Joseph Schwandtners beeindruckende Komposition „Concerto for Percussion and Orchestra“ in der Bläserfassung und der Geschichte auf der anderen Seite auf der musikalischen Grundlage der „Carmen-Suite“ von Rodion Shchedrin für Streicher und Percussion ist auf den ersten Blick verwirrend, verärgert zwischendurch und verzaubert zum Schluss ungemein. Denn mit diesem zunächst merkwürdig wirkenden Erzählen desselben in zwei Teilen stellt sich in Mannheim vor allem ein Künstler vor, der zwar das Fach des Handlungsballetts routiniert beherrscht, letztendlich aber sein Herz und sein begnadetes Können an ein anderes Moment in der Choreographie verloren hat: an die Bewegung des Körpers auf Musik.
Mori, seit sechs Jahren Tanzchef am Theater Regensburg und viele Jahre Erster Solist unter Hausherr Stefan Thoss am Staatstheater Wiesbaden, schöpft seine Bewegungen aus dem Geist, der Emotion, der Bewegung und der Stille des musikalischen Ereignisses wie es ihm heute kaum andere in dieser Komplexität nachmachen können. Vielleicht noch besser als der verstorbene Uwe Scholz, choreographiert Mori nicht „auf“ Musik, sondern aus ihr heraus und in sie hinein, mit ihr gleichsam atmend – wie ein Tiefseetaucher, der seinen Leib jenseits der Oberfläche der Unmenge an Wasser im Ozean aussetzt und mit ihr schwimmt. Moris Tanzwerke, so auch „Carmen“, entwickeln sich dadurch in höchstem Maße zu feinnervig gestalteten, komplex in sich verwobenen Organismen, deren Ansehen und Erleben Genuss pur ist und kaum enden soll.
Dieses Geheimnis erschließt sich, wenn man irgendwann versteht, dass man im Prolog zu Moris „Carmen“, dem ersten Kapitel, mit der Suche nach narrativer Bedeutung nicht weit kommt, sondern vielmehr im Geist auf einer anderen Wahrnehmungsebene mittanzen muss. Ansonsten erschöpft sich die Bedeutung des Prologs in dem simplen Satz von der Gruppe und dem Einzelnen und dass sich alle, untereinander verbunden, permanent belauern. So ist Spielort jener Ort, an dem man ist: das Theater der Bühnenarbeiter. Tief hängen drei Batterien von Scheinwerfern an den Bühnenrändern. Ein paar Objekte aus Metall, wie Tische aussehend, stehen umher. Das gesamte Ensemble trägt langärmelige T-Shirts und sandfarbene Arbeiterhosen. Weich wie Butter im Bewegungsfluss, von einer glanzvollen Geschmeidigkeit und Präzision, setzen sie das von Mori gehörte Bewegungsereignis in Gang. Es bilden sich Gruppen, kanonisch oder kontrapunktisch organisiert, einer sondert sich ab, der andere wird einverleibt, ein dritter bleibt außen vor. Vor allem zu Beginn erinnert die Szenerie immer wieder an Pina Bauschs „Sacre“, nur dass eben nicht die Worte der berühmten Kollegin gelten, dass interessiert, was den Einzelnen bewegt, sondern dass sie gleichsam bewegt werden.
Der abrupte Wechsel ins repräsentative, stilvoll von Katharina Meintke eingekleidete Handlungsballett langweilt im ersten Moment. Mori scheint hier ein inszenatorischer Funke zu fehlen. Außer zwei großen, flügelähnlichen Objekten, die immer wieder auf der Bühne verschoben werden und als Schauplatz eine Art Flugzeughalle assoziieren, sowie der Platzierung eines symbolträchtigen, orangenen Gymnastikballs, auf den sich Carmen alias die wunderbare Julia Headley immer wieder setzt, vermisst man eine weitere künstlerische Positionierung, trotz anhaltend herausragenden Bewegungsflüssen eines bis an seine Grenzen gehenden Tanzensembles. Erstmal nur die Geschichte nacherzählend und ihrer Verdichtung vertrauend, holt sich Mori seine „Carmen“ so erst später wieder zu sich. Die Darstellung von José, überzeugend von David Lukas Hemm durchlebt, gelingt. Auch die Figur der Madre, getanzt von Emma Kate Tilson berührt. Beschenkt wird der Zuschauer schließlich mit einer derart außergewöhnlich elektrisierenden Begegnung zwischen Carmen und dem Picador, getanzt von Jamal Rashnann Callender, dass man sich wähnt, Zeuge bei der Geburt eines neuen Traumpaares im Tanz zu sein. Carmens Tod durch wird so als tragisches Ereignis in Moris Inszenierung greifbar.
Autorin: Alexandra Karabelas, erschienen am 17.03.2018 in der RHEINPFLAZ, Fotos: Nationaltheater Mannheim.
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