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Viel wissen wir noch nicht vom traurigen Geschehen vor einigen Tagen im Flensburger Zug. Dass Angst im Spiel war und Tod die Folge aber ist gewiss. Das verstörende Ereignis, das jüngste von vielen,  schleicht sich in die eigene Gedankenwelt, während man Nationaltheater Mannheim einem neuen Einakter von Tanzchef Stephan Thoss folgt. Bildlich und erzählerisch hat dieser mit der Messerattacke im Norden Deutschlands nichts zu tun; inhaltlich schon. Und daraus bezieht diese spannungsvolle Uraufführung ihre Bedeutung für die Gegenwart. Nebenbei wird Thoss zunehmend auch in Mannheim greifbar als ein bekennender Tanzerzähler, der sich dem Weltgeschehen nicht aufdrängt, aber atmosphärisch ins Schwarze trifft. Seine große Lust zu inszenieren, steckt an – diesmal in bester zwielichter und humorvoll wirkender Gregory Crewdson-Manier. Anders gesagt: Das Böse und Skurile steckt in den eigenen vier Wänden.  So vertanzte Thoss für die letzte Premiere in der Spielzeit, weit in die amerikanische Literaturgeschichte zurückgreifend, Edgar Allen Poes Kurzgeschichte „Das verräterische Herz“ aus dem Jahr 1843, so auch Titel seiner Kreation und gleich des ganzen zweiteiligen Abends: einen Monolog eines Mörders, der von der Erinnerung an seine Tat gequält wird. Thoss´ Darstellung von Angst und ihren Folgen, etwa dem Versuch eines Einzelnen, aus der Isolation heraus einen Alltag aufrecht zu erhalten und dennoch von den immer mehr werdenden Wahrnehmungsstörungen beherrscht zu werden, spielt so indirekt ins kollektive Bewusstsein der Gegenwart. Kommt bei Poe ein alter Mann um, auf den der Mörder seinen Hass projiziert, macht Thoss die Ehefrau zum Opfer des Täters. Sie liegt, gleich zu Beginn, filmreif verknickt und bestens ausgeleuchtet im Silberkleidchen am Boden, während sich der Täter gelähmt vor Schreck in seiner karierter Hose mit Hosenträgern in die Ecke seiner holzvertäfelten Wohnung drückt. Neben der Gattin schiebt sich Alexandra Chloe Samion als schwarzer Schatten und Seele des Mannes ins Geschehen. Sie wird ihn fortan durch die immer verrückter werdenden Szenen begleiten und sein Innenleben mit zum Ausdruck bringen. Weiterer Dauergast: die Raum einnehmende, an Marilyn Monroe erinnernde Nachbarin, glänzend getanzt von  Emma Kate Tilson. Thoss erzählt hyperkonkret, magisch und kurzweilig zu kongenial  ausgewählten Kompositionen unter anderem von Danny Elfmann, Alfred Schnittke und Nils Frahm.

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Oft wähnt man sich in einem Psychofilm. Köpfe erscheinen in Bilderrrahmen. Kleider an Wandhaken verrücken. Gesichter erscheinen im Spiegel, ein Kuchenmesser tanzt durch die Luft und Personen im Raum verdoppeln sich. Irgendwann weiß man nicht mehr, ob es sich um reale Besucher oder Phantasmagorien des Kranken handelt. Der Tanz wird immer raumgreifender, zum Karneval der Absurditäten. Am Ende taucht eine Ballerina im Tütü mit Lampen auf dem Rock und einem Glas auf dem Kopf auf. Die Tote wird unter dem Teppich hervorgezogen, im Sessel platziert  und erhält Tee aus der Kanne. Eindrucksvoll hält Joris Bergmans seine Dauerpräsenz auf der Bühne als Mörder, der dadurch seine innere Realität im Außen wieder herstellt, durch.

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Da passt, auf den ersten Blick,  als Ergänzung die zweite Uraufführung des Abends „Nous“ des tschechischen Tänzers und Choreographen Jirí Pokorny. Eine scheinbar abstrakte Arbeit zu einer Soundkomposition von Davidson Jaconello. Sie spült Regen, Sturm, Nässe, Nebel, Rauschen und Rascheln ins Ohr. Sie lässt einen zunächst entspannen, nach der narrativen Verdichtung, der man zuvor mit Vergnügen ausgesetzt war. Mehr aber auch nicht. Denn Pokornys Bewegungssprache entspricht in ihrer Weichheit und Flüssigkeit ohne pointierte Wendungen dem Mainstream. Ein eigenes Bewegungsprofil ist noch nicht erkennen zu lassen. Auch ist das Verhältnis von Musik zu Tanz nicht geklärt, was zur Folge hat, dass die getanzten Episoden plötzlich sehr eindeutig und langweilig auf die gebotene Akustik vom Leben erzählen: von Dreiecksbeziehungen, der Sehnsucht nach Liebe oder dem Alleingelassen Werden. Schwarz bekleidet auf schwarzer Bühne in meist wenigem Licht verlieren sich die Tänzer in Szenen, die jedes Geheimnis vermissen lassen.  Eine innere Klärung, welche Relevanz die eigene künstlerische Arbeit im übergeordneten Sinne haben kann, tut Not.

Text: Alexandra Karabelas, Fotos: Nationaltheater Mannheim. Erschienen in der Rheinpfalz am 4.6.2018