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Man kennt das Format aus der Bildenden Kunst: In verdichteter Weise ermöglicht die Rückschau, die sogenannte Retrospektive, einen Überblick zum Gesamtwerk eines Künstlers. Am Staatstheater Nürnberg erhält man die seltene Gelegenheit, das im vergangen Jahrzehnt entstandene Werk eines der wichtigsten zeitgenössischen Ballett-Choreographen in Deutschland neu sehen zu dürfen. Unter dem Titel „Dekade: Zehn Jahre Ballett Nürnberg“  präsentieren Goyo Montero und seine Compagnie ab 23. Juni bis 2. Juli an fünf Abenden einen beachtlichen Querschnitt aus der gemeinsamen Arbeit zwischen 2008 und 2018.  Karten sind vor allem noch für die Premiere am 23. Juni ab 19.30 Uhr zu haben: Wer statt Fußball großartigen Bühnentanz erleben will, sollte die Fernbedienung an anderen Abenden in die Hand nehmen. Alle anderen Galaabende sind bereits sehr begehrt. Denn das Nürnberger Ballettensemble wird gemeinsam mit Gasttänzern aus der ganzen Welt Gruppenszenen, Duette und Soli aus 12 Kreationen neu einstudieren: angefangen beim legendären „Benditos Malditos“, mit dem der gebürtige Spanier 2008 seinen magischen ersten Moment mit seinem Nürnberger Publikum teilte, bis zu einer großartigen Gruppenszene aus „Dürer´s Dog“, einer beeindruckenden Referenz an den berühmten Künstlersohn Nürnbergs aus dem vergangenen Jahr. Ein freudiges Wiedersehen wird es zudem mit Monteros wegweisenden Neudeutungen von „Romeo und Julia“, „Dornröschen“, „Desde Othello“ und „Don Quijote“ geben. Die Entwicklung einer Linie abstrakter, sich emotional und atmosphärisch mitteilender Kurzstücke, die die Fragilität und Schönheit menschlichen Daseins zum Thema gemacht haben, wird anhand von prägnanten Szenen aus „Four Quartetts“, „Imponderable“, „Treibhaus“ oder „Black Bile“ neu erlebbar werden. Nur eine Uraufführung vonMontero vervollständigt das Programm: das Pas de deux „Interval“ zu Musik von Arvo Pärt.

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Das dichte Programm feierte jenen Tanz, wie ihm Montero und sein Ensemble seit zehn Jahren wahrhaftige ästhetische Chancen geben. „Ohne die Hingabe und den nie abbrechenden Einsatz jeder und jedes Einzelnen unserer Compagniemitglieder gäbe es keine Erfolgsgeschichte des Tanzes in Nürnberg“, so die Ballettleitung. Im September wird sie als Träger des Deutschen Tanzpreis Aktuell für eine herausragende Entwicklung ihr Gütesiegel erhalten. Wie unter einem Brennglas machen die DEKADE-Galas sichtbar, was Goyo Montero und seinem Ensemble gelungen ist: Das Ballett als tanztechnische Praxis, historisch überlieferte Inszenierungsform und Sammlung phantastischer Erzählungen zum Ausgangspunkt zu nehmen, um eine eigenständige und überzeugende künstlerische Position zu entwickeln. Dem Ballett am Staatstheater Nürnberg gelingt Tanz an die Gegenwart anzudocken. Sie macht  Tanz zum kraftvollen Werkzeug, die Wirklichkeit und ihre Gegenwelten zu deuten und zu bewältigen. Tanz wird hier zum Mikroskop, den Menschen in seiner Tiefe zu sehen und anzusprechen – mental, psychologisch, emotional und mitfühlend; als zoon politicon und homo ludens; als Zeitzeuge und Konstrukteur von Wirklichkeiten.

DEKADE DORNRÖSCHEN

Mit faszinierender Konsequenz hat Goyo Montero so ein Konzept performativen Erzählens im Ballett begründet. Seine Kunst setzt auf die Wahrnehmung des Zuschauers. Ihm werden Möglichkeiten zur Identifikation mit den Figuren, Prozessen und dargestellten Erfahrungen gegeben, ohne dass diese behauptet werden. Dadurch entsteht Freiraum, eigenen Empfindungen und Assoziationen nachzuspüren und den komplexen Aussagen seiner Kreationen auf die Spur zu kommen. Das narrative Ballett wird dadurch mit neuen Optionen in die Gegenwart geholt. Dafür musste der ehemalige klassische Tänzer einen Weg hin zu einem zeitgenössisch-physischen Umgang mit Bewegung zurücklegen. Er entwickelte eine Vorliebe für die Kreation dynamischer Bewegungsströme der Gruppe und für Konzepte abstrakter, beweglicher Räume. Zunehmend experimentierte er mit zeitversetzten Anordnungen von Bewegungen und Schritten im Zusammenspiel mit Flächen, Türmen, Wänden und verschiedenen Ebenen. Ohne Ehrlichkeit geht im Tanz jedoch nichts: „Jede Bewegung muss einer klaren Idee folgen und sehr genau für etwas stehen. Damit ein Stück gelingt, muss ich eine eigene Vision haben und diese Vision mit meinen Tänzern im Studio teilen“, soMontero. Seine narrativen Impulse erhält der Künstler aus zahlreichen Inspirationsquellen in der Philosophie, Literatur, Musik, Bildender Kunst, Religion, Gesellschaft und Politik und aus ureigenen Erfahrungen, die das Leben ihm bereit hält – von Geburt bis zum Tod. Unlängst hat er seinen Vertrag mit dem Staatstheater Nürnberg bis 2013 verlängert.

Autorin: Alexandra Karabelas, erschienen in der Landshuter Zeitung am 21.06.2018