Es ist heiß draußen. Das Telefonat findet vor wenigen Tagen kurz nach halb zwei statt, dann, wenn die Sonne hoch steht. Goyo Montero ist in seiner Heimatstadt Madrid. Mental und emotional hat er die fünf Gala-Abende, mit denen er aus Anlass des Abschieds von Staatsintendant Peter Theiler seine erste Dekade als Ballettdirektor und Chefchoreograph am Staatstheater Nürnberg reflektiert hat, noch nicht ganz verdaut. Dafür war die Wiederbegegnung mit dem eigenen Werk zu intensiv, der Zuspruch des Publikums überwältigend. Der Druck weiche langsam, erzählt er. „Wie es mir wirklich geht, kann ich vielleicht in ein bis zwei Wochen sagen. Ich bin noch sehr mit meinen Gefühlen beschäftigt.“ Sowohl die im Tanz ungewöhnliche Art einer Retrospektive als auch deren Umgang mit ihr als Impulsnahme zur Schöpfung eines quasi neuen Abendfüllers aus dem selbst geschaffenen Werkbestand heraus werfen ein spannendes Licht auf die Entwicklung von Choreographinnen und Choreographen als Künstler generell. So sagt man, es dauere ebenfalls zehn Jahre, bis jemand einen ersten Stücke-Kanon kreieren konnte, in denen er sich selbst als Künstler und das heißt: seinem eigenen Stil und seinen Aussagen auf die Spur gekommen ist. Im Tanz ist es noch komplizierter, legt man diesen Weg zum Künstler doch im Blick und mit Hilfe der Tänzerinnen und Tänzer zurück. Im Gegenzug für deren kontinuierliche Präsenz als Entwicklungshelfer und Träger des eigenen Werks muss der Künstler führen und kommunizieren können. Er ist als Choreograph niemand ohne jene, die für ihn tanzen. Ein Gespräch mit dem Künstler Goyo Montero in diesen Tagen ist daher immer auch ein Gespräch mit dem Compagniechef über das Ballett am Staatstheater Nürnberg, das sich unter Jens-Daniel Herzog neu zu erfinden begonnen hat.
Goyo Montero, Sie haben eine herausragende Spielzeit hinter sich. Mit „Dürer´s Dog“ haben Sie der Stadt Nürnberg ihre Referenz erwiesen. Die Wiederaufnahme ihres „Nussknackers“ war zeitgenössisches Ballettheater von hoher gesellschaftlicher Relevanz, und mit „Powerhouse“ haben Sie die Erweiterungen des Nürnberger Repertoires voran getrieben. Ihre DEKADE-Galas offenbarten die DNA ihres Verständnisses einer Compagnie, wie Sie sie führen, und ihrer Kunst. Wie ist ihr eigener Blick auf das Zurückliegende?
Die letzten zehn Jahre waren eine tolle Reise. Ich ordne derzeit für mich, wo ich selbst als Choreograph stehe. Es war für mich ein Genuss, an einem Abend so viele alte Choreographien von mir zu sehen. Ich sah die Evolution all der einzelnen Stücke und ihrer Teile, wenn auch auf sehr psychologische und abstrakte Weise; meinen eigenen Weg. Ich erinnerte zum Teil sehr gefühlvoll meine Beziehungen zu Frauen, zu Männern, meine Partnerschaft. Es war insofern ein gutes Ende dieser ersten Nürnberger DEKADE, aber keine Verabschiedung.
Wie haben die Tänzerinnen und Tänzer auf die Gala-Abende reagiert? Schließlich haben Sie in den vergangenen zehn Jahren die Compagnie praktisch einmal ausgetauscht und die Allermeisten waren in den ersten magischen Jahren des Nürnberger Ballettwunders nicht Mitglied Ihrer Compagnie?
Die Tänzerinnen und Tänzer der ersten Stunde waren jünger als die heutigen Compagniemitglieder. Sie hatten zum Teil erst die Ballettausbildung abgeschlossen, und sie sind hier mit mir in Nürnberg groß geworden. Die Uraufführung von „Treibhaus“ im Jahr 2011 neben Werken von Kylián und Duato war damals eine wichtige Möglichkeit, ein Signal nach außen zu senden und zu zeigen: Wir sind hier und wir sind stark. Dieses Statement wollte ich auch mit der etablierten Compagnie ablegen, auch wenn sich das anders anfühlt als damals vor sieben Jahren. Wir haben es aber geschafft, die Kraft und diese Energie zu mobilisieren. Denn es war auf den ersten Blick fast unmöglich für die Compagnie, das überbordernde Programm zu schaffen. Sie hat sich aber in einem sehr guten Moment präsentiert und dabei ein Bild von sich gezeigt, das fast perfekt war. Darüber waren alle Tänzerinnen und Tänzer sehr froh. Sie hatten viel Spaß, die alten Choreographien zu studieren – ob es nun „Benditos Malditos“ war, oder eben „Treibhaus“ oder „Desde Otello“. Zwar sind die Schritte jeweils festgelegt gewesen, und all diese Stücke haben ihren eigenen Geist; da jedoch die neuen Tänzerinnen und Tänzer sie nicht nur tanzten, sondern ihren eigenen Weg zu ihnen gefunden hatten, sie praktisch zu ihren eigenen Stücken gemacht haben, kamen jeweils „neue“ Stücke heraus. Als Compagnie haben wir erlebt und gesehen, was uns in der Zukunft gelingen kann, und das ist sehr schön. Die Reaktion des Publikums war unglaublich. Wir hatten jeden Abend Standing Ovations. Es ist ein Geschenk zu sehen, wie sehr unser Publikum uns als Compagnie liebt. Das freut mich sehr. Es bedeutet: Wir können weitermachen, wir haben weiterhin das Feuer.
Was ist das Geheimnis dieses Nürnberger Erfolges?
Sobald man sich auf den „tollen Tänzern“ oder „der tollen Compagnie“ ausruht, ist es vorbei. Es ist für mich essentiell, jeden Tag und jede Produktion mit dem sogenannten Anfängergeist, mit kindlicher Neugierde zu beginnen und zu erleben. Ich habe zum Beispiel im vergangenen Jahr mit jungen Tanz-Studierenden beim Prix de Lausanne ein Projekt umgesetzt und erlebt, wie sie dieses Feuer, diese Kraft in sich tragen. Sie wollten sich im Tanz zeigen. Diesen Willen und diese Kraft suche ich bei meinen erfahrenen Tänzern in Nürnberg. Das macht die gemeinsame Arbeit dort sehr interessant.
Wie empfinden Sie persönlich ihre eigene künstlerische Entwicklung in den ersten zehn Jahren?
Ich fühle mich so, dass ich Spaß mit meiner Kunst und mit meinem Werk habe. Natürlich habe ich bei jeder Premiere auch in Zukunft Angst, Fragen und Zweifel. Das gehört dazu. Ich würde nicht sagen, dass ich mich reif fühle. „Reife“ ist ein großes Wort. Aber ich habe versucht in verschiedene Richtungen zu arbeiten, und ich kann sagen, ich habe meine Ziele und meinen Weg zum Werk jeweils gefunden. Ich halte aus, dass mit jedem Werk ein Weg endet und man wieder von vorne beginnt. Das ist auch okay so.
Die Nachfrage nach Ihrer Arbeit wächst. Sie schufen Stücke für das Ballet Nacional de Sodre in Uruguay, für Diana Vishnevas Context-Festival in Perm und St. Petersburg, Acosta Danza in Kuba, das durch Europa und die USA tourende Sadler´s Wells Theatre sowie den Prix de Lausanne, der erstmals ein choreographisches Projekt mit Ihnen als Gastchoreograph initiierte. In der kommenden Spielzeit werden Sie für das Junior Ballet Zürich, für Les Ballets de Monte Carlo, für das Royal Ballet in London und, bereits zum dritten Mal, für Acosta Danza neue Werke kreieren oder bereits geschaffene Stücke übergeben.
Ja, im Vergleich zu den Jahren davor habe ich von meiner Arbeit erstaunlich viel außerhalb von Nürnberg zeigen können, auch wenn ich schon seit längerem, seit ich in Nürnberg bin, auch mit anderen Compagnien arbeite. Sehr wichtig waren für mich in diesem Zusammenhang im Jahr 2013 die Einstudierung meiner Neukreation von „Romeo und Julia“ bei der Compañia Nacional de Danza und meine 2015 begonnene Zusammenarbeit mit Acosta Danza, für die ich „Alrededor no hay“ und „Imponderable“ schuf.
Inwieweit verändern diese Außeneinsätze Ihre Kunst für das Staatstheater Nürnberg?
Es ist sehr interessant für mich. Ich sehe, wie meine Arbeit in anderen Compagnien funktioniert, die zum Teil viel stärker neoklassischer Prägung sind. Und ich realisiere, wer ich als Choreograph bin. Ich bin kein rein zeitgenössischer Choreograph, aber auch kein klassischer oder neoklassischer Choreograph. Das habe ich jetzt akzeptiert. Ich komme auch nicht aus einer speziellen Schule oder aus einem Netzwerk, wie es beispielsweise das Nederlands Dans Theatre oder das Stuttgarter Ballett darstellen, aber trotzdem bin ich da, und ich habe etwas zu sagen. Das macht mir große Freude.
Welche Rolle spielt vor diesem Hintergrund die anstehende Auszeichnung mit dem TANZPREIS AKTUELL am 22. September im Aalto Theater Essen?
Der TANZPREIS ist eine sehr besondere und bewegende Auszeichnung weil sie von Künstlern und Experten des Tanzes an Künstler selbst vergeben wird. D.h. eine besondere Gruppe von Menschen denkt, dass unsere Arbeit hier in Nürnberg gut ist und sinnvoll. Diese Wahrnehmung unserer Arbeit ist etwas sehr Tolles. Die Auszeichnung bedeutet aber nicht, dass wir besser sind als wir waren. Sie ist nicht etwas, was wir „geschafft“ haben. Wir nehmen sie entgegen wie ein Lob oder eine Kritik.
Wie wird Ihr Ansatz für Ihre Kunst in Nürnberg zu Beginn der nächsten Spielzeit sein? Welche Themen stehen zu Beginn der nächsten Dekade an? Was beschäftigt oder reizt Sie?
Ich kreiere für Nürnberg einen neuen „Sommernachtstraum“ – ein weiterer Schritt für mich hinein in das Handlungsballett und in das Literaturballett nach Shakespeare. Mein erstes „Shakespeare-Ballett“ entstand 2005 in Spanien: „Desde Otello“. 2009 brachte ich es in Nürnberg heraus. Dort war es aber bereits mein zweites Handlungsballett nach einem Werk des englischen Dichters, da ich mich damals für „Romeo und Julia“ als einer meiner ersten Neukreationen für unser neu formiertes Ensemble in Nürnberg entschlossen hatte.
Seit „Romeo und Julia“ überschreiten ab einem bestimmten Punkt alle Ihre Handlungsballett die Schwelle zum wahren Leben. Die auf der Bühne wie auch immer formulierten und spürbaren Erfahrungen und Emotionen gehen stark mit ureigenen Lebenerfahrungen in Resonanz, weil Sie sich, vermute ich, persönlich sehr weit gegenüber Ihrem Werk und dem Prozess zu ihm öffnen. Trifft das auch auf die Entstehung Ihres „Sommernachtstraums“ zu?
Shakespeares „Sommernachstraum“ ist zu perfekt, um ihn einfach nachzuerzählen. Ich werde also, wie immer, versuchen, aus der vorliegenden Handlung etwas herauszuarbeiten, das für mich notwendig ist und das meine eigene Perspektive auf den Stoff markiert. Ich nehme zur Zeit meine Ängste und Sorgen als Vater sehr wahr. Sie bilden den Filter, durch den ich bei der Neuerzählung blicken werde, während ich die Essenz des „Sommernachtstraum“ kontinuierlich bewahre. Diese Produktion wird wieder ein absolutes Abenteuer für mich.
Auch das Werk Marco Goeckes, dessen „Thin Skin“ Sie in Nürnberg erstmals aufführen werden, müsste ein solches Abenteuer werden, oder?
Die Arbeit von Marco Goecke wird ein Meilenstein für unsere Compagnie werden. Sie ist sehr besonders und erst jetzt sind wir bereit für seine einzigartige Sprache. Wir werden seine Verbindung zu Jirí Kyliáns „Falling Angels“ herstellen, ein Klassiker – wie Goecke selbst. Beide Werke, Goeckes radikale Arbeit und die neoklassisch-zeitgenössische Arbeit von Kylián, müssen wir schlicht sehr gut machen. Ich werde den Abend mit einem neuen Stück von mir nur für Männer ergänzen. Die Reflexion über die Gender-Fragen beschäftigen mich derzeit ebenfalls sehr. Viele Fragen werden diskutiert: über Sexualität, darüber, was eine Frau zu sein bedeutet, was ein Mann, was ein männlicher Tänzer, was eine Tänzerin. Ich werde versuchen, das Thema ohne Klischees anzugehen und etwas Neues zu schaffen. Ich finde in diesem Zusammenhang an meinem eigenen Sohn sehr spannend, zu beobachten, wie er männliche Kraft entwickelt oder wie sich diese bereits jetzt zeigt. Was mir noch wichtig ist: Wir werden wieder einen Abend für junge Choreographen machen, zum 4. Mal insgesamt und ein Muss für jede Compagnie. Wir müssen unseren Tänzerinnen und Tänzern aus unserer Compagnie die Gelegenheit geben, sich ausprobieren zu dürfen. Unsere Reihe trägt von Anbeginn den Titel „Exquisite Corpse“ und zeichnet sich dadurch aus, dass wie Kreationen unsere Tänzerinnen und Tänzer miteinander verbunden sein werden.
Viele Theater denken darüber nach, wie sie über die sozialen Medien das Parkett füllen. Stresst Sie das als Spartenleiter?
Nun, man muss mit der Zeit gehen. Facebook, Instagram oder Twitter spielen eine Rolle im Leben vieler und sie ermöglichen Aufmerksamkeit. Sie bieten Möglichkeiten, international gesehen zu werden, ohne Gastspiele zu absolvieren. Man darf aber nicht dafür arbeiten, für diese Aufmerksamkeit. Vielmehr ist es wichtig, das Eigene zu schaffen, seine eigene Arbeit zu tun. Das, was wir machen, ist live und für den Moment und das Theater gemacht. Damit einher gehen kann dann die professionelle Arbeit mit den sozialen Medien. Wir als Ballett am Staatstheater Nürnberg haben viele Follower. Wir investieren konkret in gutes Filmmaterial über unsere und meine Arbeit, das wir im Internet veröffentlichen – allein deswegen, weil meine Arbeit ästhetisch sehr mit dem Bild verbunden ist.
Interview: Alexandra Karabelas, erschienen unter www.tanznetz.de, www.accesstodance.de, Foto: Gregory Barton
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