Tanz in seiner Vielfalt sichtbar zu machen und an den Theatern als Kunstform abzusichern, eint nahezu alle, die in Deutschland als Choreografen, Direktoren, Intendanten, Festivalleiter, Dramaturgen, Tanz-Funktionäre oder Tänzer arbeiten. Einmal im Jahr trifft sich die Branche daher zur großen Gala im Aalto-Theater in Essen. Dort zeichnet sie eine überragende Persönlichkeit des Tanzes in Deutschland mit dem Deutschen Tanzpreis aus, dem „Oscar“ unter den Tanzschaffenden. In diesem Jahr erhielt Nele Hertling die begehrte Auszeichnung, die erstmals 1983 an Gret Palucca ausgegeben worden war. Ausrichter war in diesem Jahr zum ersten Mal der Dachverband Tanz Deutschland, der den Kreis möglicher Preisträger auf die sogenante freie Szene erweitert hatte.

Die diesjährige Jury-Entscheidung dürfte davon jedoch nicht groß beeinflusst worden sein. Dafür sind die Verdienste von Nele Hertling um den deutschen Tanz zu groß. Denn die in Berlin geborene und bis heute dort lebende Tanzdramaturgin und Kulturmanagerin setzte sich in den vergangenen fünfzig Jahren praktisch durchgehend in unterschiedlichen Positionen dafür ein, frei schaffenden Tänzern, Choreographen und Performancekünstlern aus der ganzen Welt außerhalb der Ballettcompagnien an den Opernhäusern durch Gründung von Werkstätten, Festivals, Foren, Plattformen und  und Programmen vor allem in Berlin neue Möglichkeiten zu erschließen, ihre Kunst in Deutschland zu zeigen, die lokale Szene mitzuziehen  und das Publikum vor allem in der Hauptstadt im Tanz heranzuziehen. Bis heute bleibend ist das von ihr 1988, kurz vorm Mauerfall ins Leben gerufene Festival „Tanz im August“.

Die mittlerweile 84jährige „Grande Dame der etablierten deutschen Off-Kultur“, wie sie auch genannt wird, nahm die erstmals mit 20.000 € dotierte Auszeichnung mit der ihr eigenen, fast zurückhaltenden Art entgegen. Auch wenn sich einiges getan habe, so Hertling, dürfe man nicht die Hände in den Schoß legen. „Tanz in seiner Vielfalt kann Menschen erreichen, braucht aber Geld, Raum, Strukturen, Ausbildung und mehr“, so die Preisträgerin wörtlich.  Weitere Preisträger an diesem Abend waren die Amerikanerin Meg Stuart und ihre Compagnie „Damaged Gods“ sowie der am Staatstheater Nürnberg seit zehn Jahren wirkende Direktor und Chefchoerograph Goyo Montero und sein Ballettensemble. Beide Künstler wurden für die herausragenden Entwicklungen ihrer Compagnien mit jeweils 5.000 € geehrt. Beide zeichnet aus, der Tanzkunst einen jeweils neuen, gesellschaftsrelevanten Ausdruck abgerungen zu haben, der den Menschen in seiner existenziellen Komplexität und Fragilität sichtbar werden lässt, wie Stefan Hilterhaus besonders für Meg Stuarts Werk gekonnt herausarbeitete.

Montero kommt darüber hinaus das Verdienst zu, dank der Förderung durch den nach Dresden gegangenen Staatsintendanten Peter Theiler, ein Ensemble von Solisten geschaffen zu haben, das in der Zusammenarbeit mit Choreografen von Weltrang – von so Jiří Kylián, Mats Ek, William Forsythe, oder Hofesh Shechter – das Nürnberger Publikum begeistert und das Staatstheater in die erste Riege der führenden Häuser im Tanz katapultiert hat, so die Jury. Von seinem eigenen, überzeugenden Ansatz im Bereich des narrativen zeitgenössischen Balletts ganz zu schweigen. Es verwunderte daher sehr, dass Laudatorin Julia Lehner, Kulturreferentin der Stadt Nürnberg, so wenig auf den lebenden Montero einging und stattdessen tatsächlich den verstorbenen Albrecht Dürer und am Ende die ganze Schuldgeschichte Nürnbergs vor 1945 in Erwähnung brachte. Zum Glück aber trotzte die Aufführung des sinnlich und emotional beeindruckenden Kurzstücks  „Imponderable“ von Montero dieser ein Eigenleben entwickelnden Laudatio und Montero konnte zudem seine Forderung für den Tanz formulieren: nämlich auf Augenhöhe mit der Oper zu kommen. Denn hier hinkt der Tanz als Sparte tatsächlich an nahezu allen Theatern in Deutschland weit hinterher.

Autorin: Alexandra Karabelas, erschienen in der Landshuter Zeitung im September 2018. Foto: „Imponderable“ von Goyo Montero, erstellt von Jésus Vallinas.

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