Reale Körper weggepixelt: Medienpioniere experimentieren mit digitalem Tanz

Vor allem die Tanzsparten an den Theatern der Region haben wochenlang während der Corona-Krise gestreamt, was das Zeug hielt, und sich mit bunten Filmen und Facebook-Beiträgen in die Sommerpause verabschiedet. Dass der digitale Raum den Tanz künftig noch viel radikaler verändern wird, zeigen einige Medien-Pioniere.

Der Film hält Einzug in den Ballettsaal, aber nicht erst seit der Corona-Krise: Eine Videokamera steht meistens in den Probenräumen, denn die Kompanien nutzen das Aufzeichnen, um das Erarbeitete festzuhalten. Fertige Produktionen werden nicht nur kunstvoll in Trailer verpackt, um damit in den sozialen Netzwerken zu werben. Sie helfen auch, um die flüchtigste aller Künste zu archivieren. Die Aufnahmen können verwendet werden, wenn ältere Stücke wieder einstudiert oder anderen Kompanien zur Verfügung gestellt werden.

Suche nach anderen Wegen

Neu war für die Kompanien, dass das Video während des Lockdowns plötzlich zum einzigen Fenster in die Welt wurde – ein Ersatz für ausgefallene Vorstellungen. So entschied sich der in Heidelberg lebende Edan Gorlicki kurzerhand, sein neues Stück „Impact“ mit mehreren Kameras abzufilmen, damit es unter anderem das Mannheimer Eintanzhaus am Premierentag online zeigen konnte (wir berichteten). Gorlicki war damit der erste Choreograf in Baden-Württemberg, dessen Werk online uraufgeführt wurde, und er erregte überregional Aufmerksamkeit. Ist das die digitale Zukunft des Tanzes? Edan Gorlicki sagt: „Nein.“ Tanz bleibe für ihn ein Ereignis, das live erlebt werden muss, als Pakt zwischen den Künstlern und den Zuschauern. Er hat es bis heute bei dieser einzelnen Aktion belassen – im Gegensatz zu anderen in der Branche, die andere Wege suchen.

Das Ballett Theater Pforzheim unter Leitung von Guido Markowitz entschied sich für einen anderen Weg. Das Ensemble kreierte mit „Being Human“ eine 30-minütige, digitale Re-Inszenierung seines Balletts „Die vier Jahreszeiten“, angetrieben von der Idee, die Zeichen der Zeit zu nutzen und Tanz derart zu schaffen, wie er nur im Netz existieren könnte – für Markowitz ganz klar eine Zukunft des Bühnentanzes: „Das Spannende an der Digitalisierung von Tanz ist für mich, dass sie Tänzern, Choreografen und Zuschauern völlig neue ästhetische und kommunikative Möglichkeiten eröffnet. Die Produktions- und Stilmittel des Filmes sind völlig andere als jene einer live zu tanzenden Choreografie.“

Bewegung an die Wand gebeamt

Die Digitalisierung von Tanz sei heute viel mehr als das Abfilmen von Tanzstücken, sondern stelle etwas völlig Neues her – eine neue Art des Raumes, des Bildes oder der Kommunikation, bekräftigt auch der in der Stuttgart lebende Videokünstler Philipp Contag-Lada, der zu den Pionieren im Feld von Tanz und neuen Medien gehört. Braucht man einen realen Körper während der Performance? Nein, meint Philipp Contag-Lada und ließ den Jugendclub Tanz der Staatsoper Hannover eine Sequenz tanzen, nahm sie mit dem Smartphone auf. Die Daten des Bewegungssensors, die auf seinem Rechner in Stuttgart eintrudelten, jagte Contag-Lada durch ein Grafik-Kompositions-Programm, das die Bewegungssequenz in zauberhafte schwebende Pixel-Wolken übersetzte. Diese sandte er seinem Freund Doug Borntrager im US-amerikanischen Cincinnati zu, der sie in ein Autokino der besonderen Art mitnahm: Er fuhr während der Quarantäne die Nachbarschaft ab und projizierte den Pixel-Tanz an die Hauswände. „Die tanzenden Jugendlichen aus Hannover waren so in abstrakter Form in Cincinnati zu sehen – großartig!“

Wellenbewegung nach Einstein

Auch für Medienkünstler Chris Ziegler, der nach achtjähriger künstlerischer Forschung in den USA seit kurzem wieder in Karlsruhe lebt und ein Assistenzprofessor des Zentrums für Kunst und Medien war, hat sich Tanz in digitaler Form längst vom realen oder noch sichtbar vorhandenen menschlichen Körper abgelöst. Er befinde sich aber in Partnerschaft zu ihm – sprich: Ein digital geschaffener Raum diene dem Tänzer nicht mehr nur als illustrer Hintergrund: „Ich begreife Tanz als choreografisches architektonisches System im Raum, das nicht dafür zur Verfügung steht, etwas zu repräsentieren. Ich überlasse es den Zuschauern, etwas für sich Konkretes hineinzuinterpretieren“, sagt der 57-Jährige.

Ein Beispiel gefällig? In seiner interaktiven Performance „Cosmos“ (2016) stürzen Lichtpunkte im dreidimensionalen Raum nach unten, um im nächsten Moment wieder nach oben zu fließen. Gemeinsam bilden sie die dynamische Form jener unendlichen gravitätischen Wellenbewegung aus, die Albert Einstein einst vorausgesagt hatte. In anderen Momenten verharren die nun bunten Lichtpunkte zart auf unsichtbaren Senkrechten und pegeln auf ihnen nach oben und nach unten. Zwei Tänzer, Sayaka Kaiwa und Ted Stoffer, schmiegen sich im Lichtermeer kraftvoll aneinander, sich der Schwerkraft überlassend.

Erschienen in der Rheinpfalz am 20. August 2020 und in DANCE FOR YOU MAGAZINE August 2020