„Made for us II“ nennt Goyo Montero jenes Format, über das der Ballettchef am Staatstheater Nürnberg gerne Choreographen Möglichkeiten gibt, für sein Ensemble neue Stücke zu erarbeiten. Eingeladen wurden nun mit Jeroen Verbruggen und Jirí Bubenicek Künstler der jungen und mittleren Generation. Beide Uraufführungen treffen berührend den Zeitgeist und erweitern das Repertoire der Compagnie entscheidend.

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Ein Blick auf die erste Neukreation: „Where have all the flowers gone“ von Heroen Verbruggen. Nein, das funktioniert nicht, denkt man. Es scheint von allem zu viel, zudem zu konkret und eindeutig. Rasch bäumt man sich auf gegen das Stück. Zunehmend aufgewühlt folgt man nicht nur den inhaltsreichen Bildern des Choreographen, sondern auch der nervösen, umtriebigen und sich ausdrücken wollenden Energie, mit der der langjährige Solist des Balletts Monte Carlo quasi hinter seinem Stück fuhrwerkt. Als ob er zu wenig Zeit hatte, um all das, was er zu sagen hat, zu formulieren. Am Ende hat man einen Aufschrei eines jungen Mannes erlebt, der der Welt entgegenschleudert, wie sehr die heutige Jugend ihre Sehnsucht nach Unbeschwertheit aufgeben musste. Der Bühnenhimmel: vollgepackt mit kopfüber hängenden Blumentöpfen. Später hämmert sich das grelle Licht von Neonröhren auf die Köpfe des Helm tragenden, hart das Becken bewegenden Ensembles. Emotional kaum zu ertragen: Ein Kinderwagen mit Erde und Blumen rollt über die Bühne, geschoben vom Tod auf Spitzenschuhen mit Glatze und Schminke und einem weißen Luftballon in der Hand. Das Ensemble trägt Shorts und T-Shirts. Auch hier scheinen die Farben zu grell. Man assoziiert irgendwann eine verlogene, in sich gefangene, hektische Spaßgesellschaft. Getanzt wird zu nichts weniger als zu Gustav Mahlers viersätziger, großflächiger Neunter Sinfonie, die vier Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs entstanden ist. Ein Paar in langen schwarzen offenen Mänteln lässt immerfort die Arme wie Fallbeile aufeinander heruntersausen. Mehr als eine solche Umarmung ist nicht möglich. Die Eltern eines verstorbenen Kindes im Moment des Abschieds, der nicht aufzuhören vermag ? Man möchte nicht so brutal den Tod sehen ohne dass man im Theater in die Poesie abdriften darf. Man hat sowieso noch Goyo Monteros jüngste grandiose Premiere, eine radikale Neuinterpretation von „Don Quijote“, in den Knochen. Verbruggen aber lässt einem keinen Ausweg. Man hört zum Schluss den titelgebenden Song „Where are all the flowers gone“. Sanft wedeln die Tänzer hierzu den Hüften, ein falsches Grinsen im Gesicht. Nacheinander gehen sie ab – ein charmanter Gruß an Pina Bausch. Verbruggens Kommentar zum Leben einer ganzen Generation, die im Angesicht permanenter Bedrohung durch Terror seine Jugend früh an die Angst abgeben musste, ist mutig, schlüssig und wichtig.

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Da mutet Jirí Bubeniceks „Chapeau“ auf den ersten Blick harmlos an. Die zweite Neukreation für das Nürnberger Ensemble besticht durch viel Ironie und Witz, hintersinnigen Humor und Tiefe. Spannendes Element ist eine Treppe auf der Bühne, die jeweils um neunzig Grad gedreht, zur Kulisse wird für verschiedene Lebensstationen. Eindrücklich schon das Anfangsbild: Ein Mann balanciert zahlreiche Hüte auf dem Kopf und versucht dabei die Treppe zu besteigen. Auch hier ist das Thema der Überforderung bereits umrissen, die Herausforderung, permanent in verschiedenen Rollen das Leben meistern zu müssen. Mit Verve und den Mitteln des zeitgenössischen modernen Balletts tourt Bubenicek, der unter anderem als kongenialer Interpret der Werke John Neumeiers zu den wichtigsten Solisten in Deutschland zählte, so mit dem Zuschauer durch Lebensmomente: Strassenhektik; Begegnungen; von anderen oder den eigenen Dämomen am Aufstieg gehindert werden; die Herausforderung ein Paar zu werden, wenn man sich nicht zwischen zweien entscheiden kann; die Sehnsucht, aus dem Schlamassel herauszukommen, Künstler zu sein, Mensch zu bleiben. Raffiniert und aussagekräftig hierzu das von Asymmetrien geprägte Kostümbild: Hosenbeine oder Ärmel fehlen oder sind verdreht. Zum Schluss blickt der Held wie aus einer Höhle ins neblige Licht von oben und klopft stattdessen an. Hallo, jemand da, der hilft? – insgesamt hochgradig gelungen.

Alle Fotos: Bettina Stöß, Text erschienen am 26.6.2017 unter www.tanznetz.de