Man nimmt Distanz, im ersten Moment. Muss das sein? Zwei Stunden im Theater und der einzige Inhalt besteht darin mitansehen zu müssen wie eine Jugendliche stirbt? Zuerst seelisch, als emotional verwahrlostes Einzelkind von gut betuchten Mittelklasse-Eltern, die vorrangig mit den eigenen Bedürfnissen beschäftigt sind; und danach körperlich, nachdem sie an die falsche Gruppe Jugendlicher geraten war? Dort verausgabt sie sich derart dass sie lange zwischen Leben und Tod schwebt und den Kampf letztendlich verliert. Der multikulturelle Chic der großformatigen Fotos, mit denen das Nationaltheater für die Aufführungen von „Der Tod und das Mädchen“ wirbt, tut ein Übriges, die anfängliche Skepsis nicht zu verringern: der in seinem Äußeren gleichsam von Gott gesegnete, auf Barbados aufgewachsene Jamal Rashann Callender trägt und umarmt die expressive, wie Schneewittchen aussehende Chiara Dal Borgo fast zu schön für das schwere Thema. (26)
Weshalb Stephan Thoss in seiner zweiten Mannheimer Spielzeit als Intendant Tanz zu diesem menschlich herausfordernden Stoff greift, bleibt dem Besucher der Premiere trotz Erklärungen im knapp gehaltenen Programmheft letztendlich ein Rätsel. Denn bis auf die grandios gelungene, fein ziselierte Ausarbeitung des ihr Kind immer wieder ausschließenden, eher der guten Mittelschicht entsprungenen Elternpaares fehlen Anknüpfungspunkte an aktuelle Ereignisse. Referenzen an das Sujet in der Geschichte des Tanzes lassen sich nur mit der Lupe und zufällig assoziativ entdecken. Uf den Einsatz von Schrift, Sprache, Projektionen oder Videoarbeiten, die den durch den Tanz in Gang gesetzten Assoziationsraum schärfen würden, wird verzichtet. Wer das Leben bejahe, müsse sich auch mit der absoluten Gewissheit des kommenden Todes auseinandersetzen, lässt Thoss im Spielzeitheft schreiben. Er wolle so das Spektrum aufzeigen, in dem sich Leben ereignet. Als Vollzug einer Reise mit mehreren Stationen. Hinzu kommt die nachvollziehbare Faszination des Künstlers Thoss an Schuberts berühmtem Streichquartett in d-Moll aus dem Jahr 1817. Dessen ersten und zweiten Satz lässt er jeweils am Ende der zwei Teile seiner Uraufführung erklingen. Darüber hinaus nutzt er dramaturgisch die dort angelegte Gestaltung des Todes, aufbauend auf dem Gedicht „Der Tod und das Mädchen“ von Matthias Claudius, als Verführer, Beistand und Erlöser.
Und so inszeniert Thoss pur. klassisch. Auf Körper und zugeordnetes Narrativ setzend, einem spannenden musikalischen Konzept folgend, dem außer Schuberts Komposition noch Kreationen von Ezio Bosso, Thomas Larcher und Philip Glass zugeordnet sind. Thoss erzählt geradlinig, schön und ohne Bruch, dafür motivreich und psychologisch geschult, auf der Basis hervorragenden Timings für die Abfolge und Längen der einzelnen Szenen. Und aufmerksam der Musik gegenüber. Manchmal ziert jeden Ton, jede Melodie eine Bewegung. Thoss´ große Virtuosität in der Bewegungsfindung kommt auch hier zum Tragen. Man wird nicht müde zu verfolgen, wie seine oft aus dem tiefen Plié kommenden Bewegungsfolgen, erdig, expressiv, dynamisch-kraftvoll und gestenreich in den ausschwingenden Händen und Armen, zuweilen keck im Becken, seinen Figuren zur Sprache werden. Stilvoll überzeugt das von Thoss mit entworfene Bühnen- und Kostümbild. Wenige Möbel aus Holz. Tisch. Lampe. Bett.
Die Wohnung der Eltern ein Raum im Raum aus Holzstäben. Ein „Bühnenbauhaus“, das einem irgendwann wie ein offenes Gefägnis vorkommt, in dem oder vor dem das Kind immer eines ist: alleine. Im Reich zwischen Leben und Tod sind die Farben verschwunden. Nur Türstöcke stehen wie Galgen in der dunkelgrauen Landschaft. Wie in einem Gregory Crewdson-Bild die Eltern auf dem Sofo mit dem Rücken zum Publikum. Hämmernd fällt die Tür zum Totenreich zu. Das Mädchen verliert, nach Wiederbegegnungen mit der sie zerstörenden Jugendliebe, der Clique, der Tante, den aufbäumenden Kampf gegen den Tod. Das immer gleiche auf Kurzweiligkeit ausgerichetet Erzähltempo der Inszenierung lullt jedoch dennoch ein. Man möchte auf Pause drücken. Stillstand. Nachfühlen. Die Zeit dehnen. Realität aufblitzen lassen. Was natürlich nicht geht. Und so rauscht die Inszenierung an einem vorbei: abgedichtet nach außen. Immer als Guckloch in die emotionalen Regungen wie Wut, Verzweiflung, Ignoranz und Sehnsucht hinein. Ein Tanz der zum Tod führenden Gefühle, mit dem Koffer als Symbol für die Lebensreise. Diesen erhält zum Schluss ein anderes Mädchen. Neugierig macht es sich in sein Leben auf. Sitzt und schaut. Und tanzt nicht. Endlich öffnet sich ein Raum zum Nachspüren. Mehr davon bitte.
Autorin: Alexandra Karabelas, erschienen in RHEINPFALZ am 13.11.2017. Fotos: Hans-Jörg Michael.
Oben und unten: Chiara Dal Borgo, Jamal Callender als Mädchen und Tod. Mitte: Emma Kate Tilson, Joris Bergmans als Eltern.
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