Goyo Montero, „Cinderella“ von Serge Prokofjew, wird Ihre achte Neuproduktion für das Ballett des Staatstheaters Nürnberg sein. Der märchenhafte Stoff wurde im 20. Jahrhundert zum Klassiker der Ballettbühne. Sie haben „Cinderella“ selbst viele Male getanzt. Wie gestaltet sich der Arbeitsprozess als Choreograf einer „Cinderella“-Inszenierung? Stellen Sie die Verbindung zum Ballettklassiker her?

 Die Verbindung zum Ballettklassiker „Cinderella“ bildet die Musik. Sie ist traumhaft und für Tanz gemacht. Meine Herausforderung war, alles, was ich als Tänzer von „Cinderella“ erinnerte, zu vergessen, um ganz von vorne anzufangen. Ich musste die Musik neu hören. Das war einerseits schwierig. Andererseits machte es mir Prokofjew einfach, weil er ein großartiger Erzähler ist. Sobald ich seine Musik hörte, hörte ich eine Geschichte, nicht nur die, die in sie hineingelegt worden war, eben die Geschichte von dem netten Mädchen, das vom Prinzen gefunden wird. Die Musik ist für mich stellenweise viel gewaltiger und abgründiger. Ich habe eine dunklere Geschichte von „Cinderella“ wahrgenommen. Diese versuche ich jetzt herauszubringen.

Wie werden Sie ihre „Cinderella“-Adaption in unserer Gegenwart Anfang des 21. Jahrhunderts verankern?

Der „Cinderella“-Stoff birgt Motive, die sich sehr gut mit zwei Phänomenen unseres Zeitgeschehens in Verbindung bringen lassen. Zum einen konkret mit realen Ereignissen, bei denen Menschen über Jahre verschwinden, weggesperrt, versklavt, fast vergessen und dann plötzlich wiedergefunden werden. Erst kürzlich war wieder eine solche Geschichte in den Medien. Ich habe mich in dem Zusammenhang sehr viel mit Literatur und Legenden wie z.B. jenen über Kaspar Hauser oder Tarzan beschäftigt. Zum anderen sehe ich das für mich wieder aktuell gewordene Spannungsfeld zwischen der geschichtlichen Befangenheit des Menschen und der Sehnsucht nach Erlösung. Die heutigen ökonomischen Strukturen und Verhältnisse führen zu permanenten Abgrenzungen der Menschen untereinander. Es werden Mauern gebaut, die zu Gefängnissen werden, um das, was man zu haben und zu sein scheint, zu schützen. Unter diesem Aspekt fand ich die Figur des Prinzen sehr interessant. Es handelt sich um einen Mann, der in einem Palast lebt und weder von dort noch aus seiner Rolle herauskommt. Cinderella symbolisiert den weggesperrten Menschen, der wie ein Tier in einem Kamin haust, innerlich aber gut und frei ist. Eine schöne Seele.

Wie gestaltete sich der Prozess der Bewegungsfindung, die Entwicklung eines Körperbildes von Cinderella?

Ich hatte mich dafür entschieden, zuerst die Bewegungen jeden einzelnen Tänzers zu gestalten und danach jene von Cinderella. Sie stellt keine menschliche Figur dar, sondern verhält sich eher wie ein Tier. Sie ist wie eine Katze oder ein Hund, oder auch wie ein Gorilla. Schaut man aber genau, handelt es sich um eine Person. Das exakt herauszufinden, war sehr schwer. Für die Bewegungsfindung kamen meine Beschäftigung beispielsweise mit Filmen wie  „Wild Child“ von Truffaut und „Elefant Man“ von Lynch oder auch mit Bewegungsstudien von Tieren zum Tragen. Davon habe ich einiges genommen.

Die klassischen „Cinderella“-Inszenierungen besetzen die Rollen der Stiefschwestern mit Männern. Folgen Sie dieser Tradition?

Auch in meiner Inszenierung werden die Stiefschwestern von Männern getanzt. Ich verstehe das als Hommage an das klassische  Ballett. Darüber hinaus habe ich mit dieser Rollenbesetzung noch stärker die Möglichkeit zu zeigen, in welcher Welt Cinderella lebt. Ich hoffe, wir bekommen hin, was ich mir vorstelle: Die Tänzer, die für die Rollen vorgesehen sind, sollen keine Frauen spielen oder einen Stereotypus von Weiblichkeit darstellen. Auch geht es nicht darum, sie grotesk oder burlesque, etwa als Drag Queens, zu inszenieren. Wir versuchen vielmehr, sozusagen ihre innere Weiblichkeit, von männlicher Kraft geführt, zum Vorschein kommen zu lassen. Sie sollen sich als Frauen fühlen. Die leitende Frage war also: Wie versteht und interpretiert ein Mann Weiblichkeit, ohne zu parodieren oder seine männliche Kraft verleugnen zu müssen? Es ist insgesamt ein schwieriger Prozess, weil es sich durchweg um sehr männliche Tänzer handelt, die sich ihrer Männlichkeit absolut bewusst sind und diese dementsprechend auch in ihren Bewegungen zum Ausdruck kommt. Ich bin aber guter Dinge. Ich habe tolle Tänzer in meiner Compagnie.

Wie hoch ist der Anteil der Tänzer am choreografischen Entwurf dieser beiden Figuren? Sie haben mir erzählt, dass Sie viel vorgeben, die Tänzer aber viel Freiheit genießen, sich die einzelnen Parts anzueigenen.

Mein großes Vorbild ist Mats Ek: Er weiß genau wie es aussehen muss und auch ich weiß exakt, was ich will und deswegen gebe ich, wie er, so viele Informationen wie möglich an die Tänzer weiter. Am Ende aber ist es der Tänzer, der die Rolle auf der Bühne tanzt, nicht ich. Insofern muss das gemeinsame Ziel immer klar sein: nämlich die Idee, Geschichte.  Darunter ergeben sich Subtexte. Welche Geschichte wollen wir erzählen? Welche eigene Geschichte hat Cinderella? Welche der Prinz? Die Antworten bilden die klare Linie, entlang der wir uns bewegen und schaffen wieder neue Öffnungen. Das stört mich übrigens am Märchen auch wenn es sein Hauptmerkmal ist: Dass ich da im Grunde nichts über die Figuren weiß.

Ich choreographiere jede Bewegung ganz akribisch. Der Raum, den ich dabei den Tänzern gebe, liegt in der Interpretation der jeweiligen Rolle, die in Beziehung steht mit der Persönlichkeit des jeweiligen Interpreten. Ich arbeite jedoch nicht mit Improvisation oder lasse die Tänzer Schritte kreieren. Kurz gefasst: Es handelt sich bei diesem kreativen Prozess um „Freiheit innerhalb eines Rahmens“.

Wer wird  die Rolle der Cinderella tanzen?

Wir haben aktuell einen Zustand innerhalb der Compagnie, in der das Talent unglaublich groß ist. Viele Besetzungen sind möglich. Für die Rolle der Cinderella habe ich zwei Tänzerinnen ausgewählt. Ich arbeite mit ihnen gleichzeitig, so dass beide die Chance haben, die Rolle mitzukreieren. Es handelt sich um jeweils sehr starke und sehr unterschiedliche Tänzerinnen. Unser Arbeitsprozess läuft spannend: Beide Tänzerinnen haben dasselbe Ziel und erhalten die gleichen Informationen von mir. Sie machen trotzdem jeweils etwas anderes daraus. Für mich ist es wichtig, diese zusätzlichen Variablen im Schaffensprozess zu haben.

Das Märchen „Cinderella“ beinhaltet auch das Motiv einer romantischen Liebe zwischen Mann und Frau. Der Schuh ist hierfür das zentrale Symbol. In ihrer Inszenierung wollen Sie auf den Schuh verzichten, habe ich gehört?

Der Schuh macht in meiner Adaption keinen Sinn. Und anstelle des Motivs einer romantischen Liebe steht für mich die Gleichwertigkeit zweier Menschen im Zentrum des Interesses. Ich stelle insofern keine romantische Liebe dekorativ aus, sondern arbeite mit echten Menschen und echten Gefühlen direkt aus dem Bauch heraus. Natürlich spielen da Momente sinnlicher Anziehungskraft hinein, aber sie sind nicht das Thema meiner Inszenierung. Mir geht es um die Erkenntnis, dass meine Hauptfiguren ihr Gefängnis im Kopf haben und dass es für beide um Transformation und Befreiung geht, wie bereits bei meiner Figur der Klara in „Nussknacker“. Sie sind insofern Spiegel füreinander.

 Ihre Bühnenbilder wurden in den vergangenen Jahren immer komplexere, sich permanent verändernde Räume. Wie wird es für „Cinderella“ aussehen?

Es wird riesengroß und zugleich unglaublich klein sein und, wie das Kostümbild, der Psychologie der Inszenierung folgen.

Mich fasziniert an Ihrer Arbeit seit Jahren, dass es immer zu Erlebnissen kommt, die ich als einen „Einbruch der Wirklichkeit“ bezeichnen würde. In solchen Momenten verschwimmen die Grenzen zwischen Darstellung oder Fiktion und der Vorstellung von Realität. Das, was auf der Bühne geschieht, rückt so nah, dass ich den Eindruck gewinne, hier wird nicht mehr, wenn auch sehr zeitgenössisch, ein Ballettklassiker dargestellt, sondern das, was er verhandelt, wird plötzlich real. Wird Ihre „Cinderella“-Adaption solche Überraschungen ebenfalls bieten?  

Dieses Tanzstück hat für mich von allen, die ich bislang gemacht habe, am meisten Psychologie. Dabei versuche ich mehr und mehr wie im Kino zu arbeiten. Ich werde verschiedene Ebenen anspielen: die Vorstellung einer Wirklichkeit, die Traumebene, die Ebene der Gedanken. Erstmals werden wir mit einer Webcam arbeiten, als ob wir die Gedanken des Prinzen lesen können. Im Grunde könnte dieses Stück ein David-Lynch-Film sein. Ich mag es, wenn sich die Wahrnehmungsgrenzen der Zuschauer verschieben und sie sich fragen werden: War das jetzt ein Traum von Cinderella? Oder doch nur ein Gedankenspiel des Prinzen? Was hat scheinbar real stattgefunden? Was ist jetzt die Geschichte? Ist das noch die Geschichte der Cinderella, die wir kennen? Mir macht diese Arbeit mit verschiedenen Ebenen großen Spaß. Es ist wie ein Buch oder ein Film, den ich mir wieder ansehe. Von Mal zu Mal entdecke ich mehr.

Der Zuschauer wird damit stark in die Verantwortung dafür genommen, welche „Cinderella“-Geschichte er herauslesen wird.

Ich habe mich sehr lange auf den Stoff vorbereitet. In dem Moment, wenn ich anfange, lasse ich es jedoch einfach laufen. Ich hatte keinen Plan, es so oder so zu erzählen. Es wird jetzt so, wie es aus mir und den Tänzern herausgekommen ist.

Das klingt mutig.

Natürlich spüre ich wie die Erwartungshaltung immer größer wird. Aber ich traue mir langsam immer mehr zu. Das Stück, das ich zuletzt gemacht hatte, „Faust“, war ein Schauspielstück mit viel Text – aber schon mit dem Vorgängerstück, „Don Juan“, habe ich einen neuen Weg eingeschlagen. Es war ein großer Schritt für mich als Choreograf, mich mit Sprache auseinanderzusetzen. Davor hatte ich vor allem die Bewegung als Mittel. Mit „Faust“ habe ich gelernt, ein Ballett wie einen Sprachtext zu choreografieren. Wie bringe ich Texte in Bewegung beziehungsweise wie verbinde ich Text und Bewegung? Bei „Cinderella“ brauchen wir keinen Text mehr. Aber ich choreografiere es so, wie ich es vor drei Jahren nicht gemacht hätte.