„Ich bin nichts ohne meine Tänzer“. In weißer Handschrift tanzen die Buchstaben dieses Wahrheitsgrundsatzes von Stephan Thoss auf dem grauen Klickfeld gleich unter der Rubrik „Biographie“. Was Tanz für Stephan Thoss kann, vermittelt seine Homepage ansonsten wortlos in entrückend schönen Bildern und Trailern. Es muss vor jedem der dort gezeigten Sequenzen, die in Nahaufnahme Thoss außerordentlich geschultes Körper- und Bewegungswissen aufscheinen lassen, während der Proben ein Gespräch gegeben haben. Einen Dialog zwischen Tänzer, Tänzerin und Choreograph über die Bewegungsfindung und den Sinn der einzelnen Bewegung. „Ich muss bei jeder Bewegung des Tänzers den handlungsbezogenen Gedanken spüren. Ich mag es nicht, wenn sich der Tanz nur in der Bewegung verliert“ erzählt Thoss im Exklusiv-Gespräch mit DANCEFORYOU. Die Arbeit des Tänzers ist ein Thema, das Thoss beschäftigt. „Ein Tänzer möchte ein klares Gefühl dafür haben, wofür er steht“, führt er aus. „Er möchte spüren, dass ich ihn sehe und etwas für ihn mache. Dann kann der Tänzer seine tänzerische und darstellerische Leistung in hohem Maße abrufen. Tänzer in ein Direktoren- oder Intendantenkonzept einzufügen, das es vor ihnen schon gibt, funktioniert für mich von daher nicht. Würde man Tänzer in Formen zwingen, bleibt viel spannendes Potenzial liegen. Ich lasse mich von meinen Tänzern überraschen.“
16 Tänzer hat Thoss derzeit in seinem Ensemble am Nationaltheater Mannheim. Jede und jeder darf sichtbar seine eigene Persönlichkeit zeigen – seien es Emma Kate Tilson, Jamal Rashann Callender, Julia Headley, Joris Bergmans, Alexandra Chloe Samion, Ayumi Sagawa oder Chiara Dal Borgo, um nur einige zu nennen. Mit Stephan Thoss arbeitet mit ihnen nicht nur ein ehemaliger Tänzer, der an der Dresdner Palucca Schule gelernt und in Dresden und Berlin wichtige Engagements erhalten hatte. Vielmehr ist Thoss ein Künstler aus und in Deutschland, der seit zwanzig Jahren an der Spitze von Ballett- und Tanzensembles steht. Nach den Bühnen der Landeshauptstadt Kiel, dem Staatstheater Hannover und dem Hessischen Staatstheater Wiesbaden definiert der mehrfach ausgezeichnete 53-Jährige nun bereits seit zwei Jahren den Spielplan in der Quadratestadt.
Mit „Der Tod und das Mädchen“ oder seiner jüngsten Neukreation „Verräterisches Herz“ wird Thoss auch in Mannheim greifbar als ein bekennender Tanzerzähler. Als einer, der Handlung auf die Bühne bringt; der an Figuren, Charakteren und Dramaturgie interessiert ist, mit starkem Augenmerk auf der vielgestaltigen Bewegung und auf der Basis hervorragenden Gefühls für Timing. Manchmal ziert jeden Ton, jede Melodie eine Bewegung. Man wird nicht müde zu verfolgen, wie seine oft aus dem tiefen Plié kommenden Bewegungsfolgen, erdig, expressiv, dynamisch-kraftvoll und gestenreich in den ausschwingenden Händen und Armen, zuweilen keck im Becken, seinen Figuren zur Sprache werden.
Seine Tanzwerke stehen für sich und sind auf den ersten Blick wenig gesellschaftskritisch. Atmosphärisch treffen sie im kollektiven Unterbewusstsein ins Schwarze. In „Der Tod und das Mädchen“ inszenierte er schonungslos ein emotional erkaltetes, um sich selbst drehendes Elternpaar aus der Mittelschicht. Im „Verräterischen Herz“ vertanzte Thoss Edgar Allen Poes gleichnamige Kurzgeschichte aus dem Jahr 1843: einen Monolog eines Mörders, der von der Erinnerung an seine Tat gequält wird. Thoss´ Darstellung von Angst und ihren Folgen, etwa dem Versuch eines Einzelnen, aus der Isolation heraus einen Alltag aufrecht zu erhalten und dennoch von den immer mehr werdenden Wahrnehmungsstörungen beherrscht zu werden, geriet kurzweilig und schlicht superb. Irgendwann wähnte man sich wie in einem Mystery Film. Köpfe erschienen in Bilderrrahmen. Kleider an Wandhaken verrückten. Ein Kuchenmesser tanzte durch die Luft. Personen im Raum verdoppelten sich. Der Tanz wurde immer raumgreifender, zum Karneval der Absurditäten. Eindrucksvoll hielt Joris Bergmans seine Dauerpräsenz auf der Bühne als Mörder.
Themen, die Menschen umtreiben, bilden generell das Dach, unter dem Stephan Thoss seine Spielpläne subsumiert – seien es Spielarten der Liebe im Zusammenspiel mit Angst, Egoismus oder Leidenschaft, wie in der zu Ende gegangenen Spielzeit; sei es das Themenfeld Tanz als Stimme und Sprache des Körpers von Unsagbarem in der Gegenwart, wie in der neuen Spielzeit.
„Ich suche schon gesellschaftliche Themen, von denen ich das Gefühl habe, dass es sich lohnt, sie auf der Bühne zu reflektieren,“ sagt Thoss. Liliana Barros („Evolution“), Johan Inger („Empty House“), Giuseppe Spota („Petruschka“), Marco Goecke („Nichts“), Jirí Pokorny („Nous“) und Yuki Mori („Carmen“) werden als Gastchoreographen oder bei Wiederaufnahmen seinen Tänzern Gelegenheiten geben, die Bewegungssprachen anderer zu praktizieren. Thoss selbst wird zudem seine berühmte Inszenierung „Blaubarts Geheimnis“ auf die Mannheimer Bühne holen und mit „Sanssouci“ eine Orchester-Tanzpremiere stemmen. Man darf sich darauf freuen.
Text: Alexandra Karabelas, Fotos: Nationaltheater Mannheim. (1) + (2) Aus „Blaubart“; (3) aus „verräterisches Herz“; (4) aus „Der Tod und das Mädchen“. Alle Choreographien: Stephan Thoss
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