Wer merkt´s? Stephan Thoss, Tanzchef am Nationaltheater Mannheim, feiert 2019 tatsächlich Choreografenjubiläum. Vor dreissig Jahren hatte er am Staatstheater Kassel seine ersten Choreografien präsentiert. Seine jüngste, hervorragende Premiere mit dem Titel „Sanssouci“ spiegelt Thoss erneut als souveränen Tanzerzähler, der er geworden ist, und trifft darüber hinaus ins Schwarze, was den Zustand der Menschen in der Welt betrifft: „Sanssouci“ kann als performatives Panorama über das Unbehagen in der wieder entdeckten Moderne gedeutet werden.
Stephan Thoss ist ein Künstler aus und in Deutschland. Geboren in Leipzig, steht er seit über zwanzig Jahren an der Spitze von Ballett- und Tanzensembles im Land. Nach den Bühnen der Landeshauptstadt Kiel, dem Staatstheater Hannover und dem Hessischen Staatstheater Wiesbaden definiert der mehrfach ausgezeichnete 54-Jährige nun bereits seit drei Jahren den Spielplan in der Quadratestadt.
Für „Sanssouci“ arbeitete er am Haus erstmals mit der Oper zusammen. Die gemeinsam mit Kapellmeister Matthew Toogood und Bühnenbildner Martin Kukulies geschaffene Neuschöpfung stellt eine gelungene Version eines Abends dar, der Oper, Tanz und Raum, Chor, Compagnie und Kulissen, Sänger*innen und Tänzer*innen kongenial zusammenführt. Substanziell überzeugt „Sanssouci“, das auf das 1747 fertig gestellte Sommerschloss von Preussenkönig Friedrich II. in Potsdam Bezug nimmt, hervorstechend. Sinnhaft im dringend sanierungsbedürftigen Nationaltheater nicht unweit des Mannheimer Barockschlosses uraufgeführt, projiziert das hybride Werk das große Unbehagen in der wieder entdeckten Moderne auf ein ausdrucksstark getanztes und gesungenes, die Zeiten durchschreitendes, performatives Panorama. Denn eindrücklich und verunsichernd führt es in klaren Bildern die Vermassung und Anonymisierung des Menschen in der Gesellschaft vor Augen, wie sich diese vor über hundert Jahren geformt hat, auch und gerade als diese schließlich erschreckend überheblich und blind in den Ersten Weltkrieg hineingeschritten ist und sich danach kühl-sachlich einerseits, lebenshungrig und um die richtige Ordnung ringend andererseits in neuen, unsicheren Zeiten eingerichtet hat. Ausgesetzt Sein, Aufbegehren, Überlebenskämpfe, Ohnmachtsgefühle gegenüber der Macht von Klassen und Institutionen, aber auch Gruppe und Urbanität – all das liegt deutlich in der Luft.
Immer wieder und bis zum Schluss formieren sich Sänger*innen und Tänzer*innen zu immer neuen Gruppen, um ein verloren wirkendes, kaum sich selbst äußern könnendes Mädchen im weißen Hemdchen herum (Torill Kolsrud) – Sinnbild für die moderne, verlorene Seele. Am Ende geht sie allein, mit verknickten Füßen über Notenblätter gehend, die der Chor zuvor hat fallen lassen, davon. Einer sieht ihr nach. Allerdings ohne ihr hinterherzulaufen. Applaus.
Ob Stephan Thoss auf eine solche Deutung hinaus wollte, weiß man nicht. „Sanssouci“ hat jedenfalls das Zeug dazu, auch wenn die Angaben zum Inhalt der getanzten und inszenierten Bilder konkreter, sprich narrativer gefasst und zu Beginn bis zur Hälfte des Abends an der Figur Friedrich II. orientiert waren.
Aber ist es nicht so, dass jedes sehr gute Tanzwerk sich von den Intentionen, Motiven und konkreten Aufgabenstellungen, die sich der Choreograf mit seinem Team stellte, löst, um mit der Gegenwart, deren Fundamenten und deren Betrachter zu kommunizieren – ganz nach dem Motto „Kunst ist nicht, was du siehst, sondern was sie sehen lässt“? Und ist es zudem nicht so, dass dies umso stärker bei einem Werk eines Künstlers gelingt, der seit Jahrzehnten die Kunst der Choreografie praktiziert? – Lebenszeit steckt bei Thoss im Tanz.
– „Ich suche schon gesellschaftliche Themen, von denen ich das Gefühl habe, dass es sich lohnt, sie auf der Bühne zu reflektieren,“ sagte Thoss einmal in einem längeren Gespräch. Themen, die Menschen umtreiben, bilden so das Dach, unter dem er seine Spielpläne subsumiert – seien es Spielarten der Liebe im Zusammenspiel mit Angst, Egoismus oder Leidenschaft, wie in der vergangenen Spielzeit in Mannheim; sei es das Themenfeld Tanz als Stimme und Sprache des Körpers von Unsagbarem in der Gegenwart, wie in der aktuellen Spielzeit. So inszenierte er in „Der Tod und das Mädchen“schonungslos ein emotional erkaltetes, um sich selbst drehendes Elternpaar aus der Mittelschicht. Im „Verräterischen Herz“ vertanzte Thoss Edgar Allen Poes gleichnamige Kurzgeschichte aus dem Jahr 1843: einen Monolog eines Mörders, der von der Erinnerung an seine Tat gequält wird. Thoss´ Darstellung von Angst und ihren Folgen, etwa dem Versuch eines Einzelnen, aus der Isolation heraus einen Alltag aufrecht zu erhalten und dennoch von den immer mehr werdenden Wahrnehmungsstörungen beherrscht zu werden, geriet kurzweilig und schlicht superb. Irgendwann wähnte man sich wie in einem Mystery Film. In beiden Werken wie auch in „Sanssouci“ erweist sich Thoss als als souverän bekennender Tanzerzähler. Als einer, der zunächst Handlung auf die Bühne bringt, und diese Inszenierung dann atmosphärisch derart auflädt und mit einem derart eigenen Verlauf versieht, dass Zeit-Portraits entstehen. Thoss bewertet nicht, aber lässt sehen. Er ist an seinen Figuren, Charakteren und Dramaturgie vehement interessiert und fokussiert genau deren Bewegung. Sein Gefühl für Timing und seine Musikalität sind beeindruckend hervorragend. Manchmal ziert jeden Ton, jede Melodie eine Bewegung. Man wird nicht müde zu verfolgen, wie seine oft aus dem tiefen Plié kommenden Bewegungsfolgen, erdig, expressiv, dynamisch-kraftvoll und gestenreich in den ausschwingenden Händen und Armen, zuweilen keck im Becken, seinen Figuren zur Sprache werden. So auch „Sanssouci“, „Sanssouci“, „Ohne Sorgen“, welch ironischer Titel plötzlich. Das Stück empfängt seinen Zuschauer mit einem szenischen Bild tatsächlich in einem Schloss. Dort sitzt Joris Bergmans als alter Friedrich gebeugt in seinem Sesselchen; links von ihm, quasi im Nebenzimmer, seine Schwester Amalia (Emma Kate Tilson), von Liebesschmerz gequält. Beide Protagonisten fasst Thoss jeweils in Trios, denn mit Julia Headley und Jamal Callender stellt er ihnen nicht nur Verkörperungen von Musik bei, mit denen sie in einen Bewegungsfluss finden, sondern zudem jeweils Gesang, der ihre innere Situation über die Stimme zum Ausdruck bringt und dadurch für Tanzliebhaber*innen glückhafte Momente bereit hält. Zu sehen ist, was sonst verborgen ist: Sprachfluss und Bewegungsfluss laufen synchron und korrespondieren miteinander.
Das Leben zweier einzelner, historisch herausgehobener Oberschichts-Personen und ihre familiären Lasten – etwa der strenge, fast grausame Vater Friedrichs und Amalias – ist in den folgenden, tänzerisch umwerfend prägnant choreografierten Szenen Thema des ersten Teils. Auch die gesamte Familie Bach sowie der Philosoph Voltaire tauchen im Personenkreis auf, auch wenn es für die Betrachtung dieses komplexen Werkes am Ende nicht so wichtig ist. Vielmehr fasziniert die Genauigkeit, mit der Thoss hier eine Phantasmagorie des Vergangenen entwirft – ein Tasten in ferne Zeiten, in denen neben Liebe Macht, Intrigen und Schurkereien den der Kunst zugewandten Menschen seelisch übel mitspielten. Musikalisch entfaltet sich der erste Teil, „Innen“, zwar zu Musik von Johann Sebastian Bach, aber auch zu Kompositionen von den zeitgenössischen Komponisten Arash Safaian und Valentin Silvestrov nach Bach. Damit liegt dieser erste Teil musikalisch auf spannende Weise zum zweiten, als „Außen“ betitelten Teil überkreuz. Denn dieser, der der sich zu unserer Gegenwart hin öffnet, folgt Händels geistlichem Konzert „Dixit Dominus Domino meo“ aus dem Jahr 1707.
Das hier schon musikalisch platzierte Schweben durch die Zeiten, die Auflösbarkeit ihrer Grenzen, wird von einer faszinierenden Raumlösung begleitet. Von Szene zu Szene verschwinden Wände des Schlosses nach oben. Die Bühne wird immer weiter. Weiter hinten tun sich neue Perspektiven auf. Lange Flure durch alte Räume führen in neue Räume immer jünger werdender Vergangenheit, solange, bis Schlosswände zu sehen sind, deren Putz abfällt. Die Weite des Himmels offenbart sich. Zwölf Glockenschläge in einem weiten Kirchenraum der Macht eröffnen und beenden den anschließenden zweiten Teil. Dessen Bedeutung wurde bereits genannt. Chapeau!
Autorin: Alexandra Karabelas, erschienen in DANCE FOR YOU MAGAZINE (04/2019) und tanznetz.de am 20.3.2019
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