Marco Goecke ist Residenzchoreograf des Nederland Dans Theaters und in diesem Jahr von Gauthier Dance Theaterhaus Stuttgart und hat seit 2000 ein beeindruckendes Konvolut an Tanzwerken geschaffen: zum jetzigen Zeitpunkt exakt 68 Stücke. Aktuell feiert die neueste Kreation des 46-Jährigen an der Pariser Oper ihre Uraufführung. Parallel laufen seit Wochen die Vorbereitungen für seine erste Spielzeit als Ballettchef an der Staatsoper Hannover.


DOGS SLEEP - Marco GOECKE - répétitions- Marc Moreau et Marco Goecke (c) AnnRay-2018-1582

 

Ihr choreografisches Werk ist vom Umfang und der weltweiten Nachfrage her beeindruckend. Viele Kompanien fragen an, um ein Werk von Ihnen aufführen zu dürfen. Wie regeln Sie das?

MG: Da ich nicht überall sein kann, habe ich Menschen, die meine Stücke in den Kompanien einstudieren. Manchmal bin ich zwar noch bei der einen oder anderen Kompanie, aber ich kann es mir zeitlich oft nicht leisten, vor Ort so intensiv noch einmal an den Stücken zu arbeiten, wie ich es vielleicht gerne tun würde. Generell ist die Übernahme eines älteren Stücks genauso aufwändig wie eine Neukreation, aber viel Verantwortung liegt dann eben nicht bei mir, sondern bei den Ballettmeistern, denen ich vertraue.

Planen Sie dafür in Hannover mehr Zeit ein?

MG: Mich beschäftigt in der Tat zur Zeit sehr, alte Stücke von mir nochmals über einen längeren Zeitraum als sonst intensiv mit mir selbst zu erarbeiten und sie so auf die Bühne zurückzubringen, wie ich es vielleicht gerne hätte. Meinen Besitz an Stücken sozusagen in Hannover zu verwalten und zu verfeinern, an dieser Idee habe ich Spaß.

Werden Sie auch Gastchoreografen einladen?

MG: Ja, daran arbeiten wir aktuell – Menschen, die ich sehr schätze und Menschen, deren Arbeit ich als wichtig empfinde. Mehr kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.

Alle Ihre Stücke speisen sich absolut aus Ihrem Empfinden Ihrer selbst in und gegenüber der Welt. Erleben Sie jeden neuen Kreationsprozess als eine tiefe Selbstbegegnung?

DOGS SLEEP - Marco GOECKE - répétitions- Marco Goecke et Arthus Raveau (c) AnnRay-2018-1631

MG: Ja, aber auf einer anderen Ebene. Selbstbegegnung im Privaten speist sich ja aus den alltäglichen Erlebnissen und Sorgen. Und dann gibt es diese andere Welt, eine verborgenere Welt, die wir alle und die wir immer vor Augen haben. Aus ihr speisen sich meine Stücke.

Wie erleben Sie diese Welt?

MG: Manchmal, abends, wenn ich mitten in einem Kreationsprozess bin, habe ich große „Sehnsucht“ – ein sehr schönes deutsches Wort. Da zerreißt es mich fast, weil ich so viel empfinde und zeigen möchte. Da bin ich ganz romantisch. Das alles ist nichts Konkretes, sondern auch oft Unbekanntes. Es lässt mich Angst empfinden. Diese Angst ist dann auch da, wenn ich für meine Stücke täglich von diesen meinen Empfindungen zehren muss. Ein Stück nur aus mir heraus geschaffen, ist im Grunde für mich immer beängstigend. Deswegen fällt es mir nicht immer leicht, ein Stück zu choreografieren.

Haben Sie darüber nachgedacht, andere Wege einzuschlagen?

MG: Ich wünsche mir manchmal, ich hätte mehr Konzept oder mehr eine Geschichte zu erzählen. Das trifft mich insgesamt nicht so tief. Ein Handlungsballett mit einer vorgegebenen Handlung ist entspannender.

Sie haben erstmals für die Pariser Oper eine Uraufführung kreiert. Was hat das mit Ihnen gemacht?

MG: Was den Kreationsprozess anbelangt, ist es heute für mich nicht mehr wichtig, wo oder für welches Theater ich arbeite. Die Angst ist immer die gleiche – ob das in Paris oder in Plauen ist. Sicher, das war auch einmal anders. Bei meinem erstes Stück für das Nederlands Dans Theater – „Nichts“ im Jahr 2008 – war ich sehr nervös in Bezug darauf, was die Leute davon halten würden. Heute bin ich, so gesehen, nur der Sache und meiner wegen nervös.

Für Ihre neue Kreation an der Pariser Oper hatten Sie nicht mehr als gut zwei Wochen Zeit. Sie müssten sich hierfür innerlich anders aufstellen, um das neue Stück in der kurzen Zeit zu schaffe, erzählten Sie mir vor wenigen Wochen.

MG: Ja, davon habe ich geträumt. Ob es funktioniert hat, ist die Frage. Ich habe mir im Vorfeld ein paar Personenkonstellationen zusammengestellt. Aber was dann im Endeffekt passiert ist und was getanzt wird, das kam mir von Tag zu Tag, das konnte ich auch nicht planen. Ich habe gehört, dass andere Choreografen ihre Stücke bis in die Schritttechnik hinein komplett vorausplanen. Das klingt verlockend, ich glaube aber nicht, dass das mein Ding ist. Das wäre nicht ich.

Die technologischen und digitalen Entwicklungen kreieren neue Vorstellungen davon, wie wir sein und leben könnten. Wir leben mit dem Smartphone in der Hand, die Verteilung von Macht und Ohnmacht in der Welt tritt in vielen Bereichen deutlich hervor und gestaltet die Gesellschaft und wie wir sie wahrnehmen. Beschäftigt Sie, welche Position Ihr Werk in diesem Zusammenhang einnimmt?

MG: Ich glaube dass all die Technik, die uns heute unzählige Möglichkeiten bietet, in dem ganz einfachen System von „Vorhang auf, Vorhang zu“ nicht funktionieren wird. Theater ist meines Erachtens etwas sehr Antiquiertes, aber zutiefst Menschliches. Vielleicht darf es mit der heutigen Zeit und ihren scheinbaren Maßstäben gar nichts zu tun haben.

Viele Theatermacher denken anders.

MG: Aber ist das Theater im Grunde genommen nicht einfach eine emotionale Bretterbude? Also etwas sehr Rohes? Dort, in dieser Bretterbude, mit ein paar Lichtern an der Decke, geht doch nur ein Fetzen Stoff hoch, und auf der einen Seite sind die einen, und wir sind die anderen, die etwas zeigen. Oder die uns etwas über uns erzählen. Da ist also nichts außer wir und das Nackte und das Unzeitgemäße. Und im besten Fall fällt das, was die einen zeigen, auf den Menschen und das, was wir alle fühlen, zurück. Und das ist dann immer das Gleiche im Leben, immer dieselbe Verzweiflung – im Mittelalter wie im Zeitalter der Smartphones. Das ist für mich das Spannende am Theater. Und das Anstrengende. Die Chance des Theaters liegt für mich daher im Alten.

Was bestimmt Ihre Auswahl an Tänzerinnen und Tänzern für Ihre Kompanie?

MG: Ich habe bis jetzt so ausgewählt, dass Menschen dabei sein werden, die ich schon lange kenne. Denn es geht auch darum, mich fallen lassen zu können. Außerdem wird es bald in Hannover eine Audition geben, bei der ich noch einige neue Tänzer suche werde.

Beschreiben Sie den Goecke-Tänzer.

MG: Er oder Sie hat auf eine natürlich Weise eine große Offenheit jenseits jeder Eitelkeit. Eine Offenheit für eine Schönheit, die auch das Hässliche beinhaltet. Und wenn ich im Bewegen eine gewisse kindliche Naivität spüre. Etwas Unkalkuliertes. Als würde die Bewegung, der Tanz erst gerade während des Tanzens entstehen, auch wenn man weiß, dass in der Choreografie alles fixiert ist. Und ich suche mutige Menschen. Auch Stolz gehört für mich dazu.

Sie haben sich über Ihre Jahre die einzelnen Partien des Körpers für Ihr eigenes choreografisches System regelrecht erarbeitet. Der nackte Oberkörper, das Port de bras, die Gesichter und Stimme, die Bein- und Fußarbeit. Welches Körperareal kommt demnächst dran?

MG: Im Moment suche ich nach richtiger Nähe. Nach Intimität und wie ich diese mit Elementen des Balletts Wirklichkeit werden lassen kann. Dass man sich beispielsweise wirklich küsst, da habe ich zur Zeit so ein Faible dafür. Ich muss natürlich schauen, wer dazu bereit ist.

Tanz ist für mich dann am Schönsten wenn die Schwelle zwischen Spiel und Realität überschritten wird. Wenn ich weiß, dass ich das genauso erlebe, wie es die Tänzer für mich in dem Moment auf der Bühne leben, während ich zusehe.

MG: Ja, das ist der Idealzustand. Ich habe als Jugendlicher viele Stücke von Pina Bausch in Wuppertal gesehen. Ich erinnere mich, dass ich nie einordnen konnte, was die mir da vorspielten. Ich habe mich immer gefragt, ob das jetzt echt ist oder gespielt war. Es wirkte echt, und doch war ich im Theater. Pina Bausch hat für mich diese Grenze geöffnet. Das fand ich faszinierend.

Erschienen am 4.2.2019 auf www.tanznetz.de. Foto: Regina Brocke.