Mehr Frauen in der Kunst – man weiß, dass EinTanzHaus-Intendantin Daria Holme diesen Schwerpunkt im Spielplan gerne entwickelt. Mit der Einladung an Reut Shemesh und die von ihr entworfene, grenz-überschreitende Performance „ATARA“ hat sie nun einen Wurf gelandet. Auf bestechende Weise macht die in Köln lebende Choreografin Leben und Empfinden jüdisch-orthodoxer und weltlicher Frauen sinnlich begreifbar.

Drei Frauen oder vielmehr zwei Frauen und ein Mann, der, wie eine Frau gekleidet und frisiert ist, stehen im Zentrum dieser Aufführung. Alle tragen einen mittellangen, graufarbenen schweren Rock, Strumpfhosen, flache Ballerina und ein geschlossenes Oberteil  – Bluse oder Rolli. Ihr Haar: Pagenkopf-Perücken, wie sie orthodoxe Jüdinnen nach der Hochzeit tragen, weil sie ihr Haar bedecken sollen. Die Choreografie beginnt minimalistisch. Ort des Geschehens ist das hell ausgeleuchtete Quadrat auf dem weißen Tanzboden. Hella Immler und Johanna Kasperowitsch stehen etwas voneinander entfernt in einer Linie. Unmerklich knicken beide mit einem Bein ein, zuerst einmal, dann in synchroner Ausführung viele Male, während sie sich langsam gegenläufig zueinander drehen. Es folgt ein Ausfallschritt – etwas, was man mittlerweile kaum auf einer zeitgenössischen Tanzbühne mehr sieht. Er wirkt altmodisch. Dann wird der Schritt wieder aufgelöst. Es folgt ein straffes Wegstrecken beider Arme vom Körper. Die Hälse sind gereckt. Wie Schwestern sehen die beiden aus. Oder wie strenge Aufseherinnen. Die Fähigkeit zur Selbstdisziplinierung, dazu, sich als Person einem gesellschaftlich geforderten Erscheinungs- und Benimm-Bild unterzuordnen, schreit förmlich aus dieser klaren, eindringlichen Körpergeste.

Dass mit ihnen jüdische verheiratete Frauen gemeint sind, macht einem die Projektion mehrerer Fotos zu Beginn der Aufführung klar. Wie in den choreografischen Szenen später zeigt sich auch in deren Auswahl und linearer Anordnung Reut Shemechs Talent, sehr fein zu arbeiten. Da werden von schon vergilbenden Fotografien die Hände mit Ringen hervorgehoben. Die bestrumpften Beine. Die vom Brautschleier verborgene Frau. Dass diese Frauen anders sein können als in den vielen Vorurteilen, die über sie herrschen und die sie in der ersten Sprechszene fast wie Militärs auf dem Feld von sich geben („viele Kinder“, „angepasst“, „ungebildet“, „auf die Küchenarbeit“ reduziert), will diese Aufführung zeigen. Das ist zu spüren. Shemesh geht auch hier den geraden Weg und präsentiert eben mit Florian Patschovsky in den Frauenkleidern zugleich das Unmögliche in der von ihr reflektierten Gesellschaft: Das Fließen zwischen den Geschlechtern; den Wechsel des Geschlechts. Zugleich dient Patschovsky als raffinierter Spiegel für die ihre Eigenständigkeit und Weiblichkeit gerade verlierenden orthodoxen jüdischen Frauen, sobald sie verheiratet sind  – so könnte eine These lauten, die dieses Stück formuliert. Auch das Thema „Gewalt in der Ehe“ wird klar angeschnitten. Mit aufgerissenen Mündern und Bewegungen in Zeitlupe kommentieren sie immer schwerer zu verstehende Sätze darüber, dass sich die Frau nach der Heirat besonders schützen muss. A propos: „Atara“ – es weder klar, was dieser Titel noch eine andere ausschließlich jiddisch oder hebräisch gesprochenen Szene bedeuten. Shemesh liefert auch keine Übersetzung, da es ihr eher auf den zugegebenermaßen fremden und schönen Klang der Worte ankommt. Doch genau hier entwickeln sich kleine Schwächen des Werkes, bleibt es doch an manchen Stellen verschlossen; ist der episodische Erzählfluss nicht mehr entzifferbar, so schön die gewaltigen Tanzszenen sich auch entfalten, die als etwas sehr Besonderes erachtet werden können. Ohne sich einmal vom Zeitgenössischen Tanz verführen zu lassen, lässt sie ihre drei Darsteller zwischendurch immer wieder mal wütend, mal kraftvoll, mal ekstatisch in Schritten und Bewegungen gemeinsam in einer Art tanzen, wie orthodoxe jüdische Gruppen unter sich feiern müssten. Allein davon eine Ahnung zu bekommen, dafür lohnte sich schon der Besuch dieses Theaterabends. Shemeshs Rafinesse reicht dabei bis zum Schluss. Sie lässt die drei sich die Perücken abnehmen und die Röcke ausziehen. Für einen kurzen Moment hofft man, die Lebenssituation dieser gefangenen, sich selbst reflektierenden Menschen möge sich ändern. Doch sie ändern nur ihre Position im Raum, setzen die Perücken der anderen auf und lassen dann einen Epilog sprechen, in dem jeder einzelne an diesem Abend im eigenen Leben still nachfühlen darf, was noch nicht gelebt wird. Applaus!

Erschienen in der Rheinpfalz am 30. Oktober 2020