Junge zeitgenössische Choreografie gleicht oft einem Guckloch durch eine Tür in jenen Raum, wie junge Künstlerinnen und Künstler die Welt stückweise erleben und interpretieren. Mit dem thematischen Uraufführungsabend „Haut“ bekam man dabei in den vergangenen Wocheni bei Tanz Theater Pforzheim Wertvolles geboten, auch wenn die einzelnen Stücke ziemlich herausforderten. Die Zusammenarbeit des Ensembles mit dem Masterstudiengang Choreografie an der Palucca Hochschule für Tanz Dresden unter Leitung von Katharina Christl hat sich in diesem Zusammenarbeit gelohnt: Zwei der drei Uraufführungen sind bravouröse Abschlussarbeiten geworden: „Kaufenland“ von Jack Bannermann und „MAĀN“ von Shiju Liu. Auch Dario Wilmington, der gemeinsam mit Selene Martello „I can´t help it“ kreierte, schloss an der Palucca Hochschule sein Studium ab. Beide waren zudem mehrere Jahre am Theater Pforzheim unter Leitung von Guido Markowitz engagiert, bevor sie an das Staatstheater Kassel weiterzogen. Für sie war sozusagen es ein Heimspiel und von außen betrachtet gleichzeitig ein Test, ob ihr Ansatz, sich vor allem mit konträren physischen und mentalen Zuständen als Ausgangspunkt für choreografische Entscheidungen zu beschäftigen, trägt. Anders gesagt: Was erzählt „I can´t help it“ – „Ich kann´s nicht ändern“, wenn es aus dem choreografischen Schaffensprozess entlassen worden ist und sich auf der Bühne entfaltet? Die Spurensuche führt schließlich zu einer dystopischen menschlichen Erfahrung, die frösteln lässt und kathartisch wirkt, erzählt in tänzerisch großartigen, atmosphärisch beklemmenden Bildern.
Nahezu aufatmend wirkt vor diesem Hintergrund der Beginn von „MAĀN“ von Shiju Liu, das Dramaturgin Anna Mohrdieck im Programmheft zu Recht als ein „feinsinnig-dichtes choreografisches Gewebe“ über Berühren und Berührtwerden beschreibt, das im zweiten Teil schließlich perfekt in den Dschungel des Freudschen tiefenpsychologischen Instanzenmodells vom Ich, Es und Über-Ich führt. So nimmt sich, kaum ist „I can´t help it“ verklungen, die aus Kanada stammende Tänzerin Chelsea DesLauriers, gekleidet in Streifenhemd, Hose und Krawatte, den Raum und begrüßt das Publikum fast einzeln mit kanadischer Verve. Shake Hands und Komplimente säumen ihren ausführlichen, die Lacher herauskitzelnden Weg über die Trinüne, der unverhohlen konventionell organisierte Nähe und Berührung mit den Zuschauerinnen und Zuschauern herzustellen als Ziel hat. Die gegensätzlichen Steigerungen zelebrieren wenig später Camilly Zany, die als übergriffige „Huggerin“ und grenzüberschreitende „Umarmerin“ agiert, die man auch, wenn man das nicht möchte, wegschicken könne, so DesLauriers, und Emilia Friedholm, die schließlich jede Berührung mit anderen vermeidet und als leicht schräge Solistin auftritt. Die kurzweilige Choreografie hangelt sich in der Folge durch mehrere virtuose Pas de Trois, Soli und Klärungsaktionen dergestalt, dass die Figur Zanys selbst keine Umarmung zuzulassem vermag, Friedholm Mühe hat, eine Hand eines anderen zu ergreifen und DesLauriers sich als Person abhanden kommt, indem sie am Ende nur noch in der dritten Person über sich spricht. „MAĀN“ überzeugt so als zeitgenössisches Kammerspiel über verborgene emotionale Abgründe in der Alltagswelt.
So beginnt das Stück mit einem harten Knall. Der Tänzer Ido Stirin lag schon länger rechts vorne auf dem Boden, gestreckt auf dem Bauch, nur hat man ihm noch wenig Beachtung geschenkt. Doch dann schlägt seine linke Schulter auf den Boden und man schaut hin. Der Schlag der Schulter wiederholt sich. Auf die Konfrontation des Körpers mit dem Boden folgen weitere: Die Choreografie ist dabei durchgehend aus der Logik einzelner, klarer Bewegungen geboren – das Heben des Hinterteils, um den Körper auf die Seite zu bekommen, das Verschieben des Arms, das den Oberkörper auf dem Boden zwangsläufig verlagert, das Versetzen des Beins, um den Zug für den Torso nach oben zu haben. Es scheint, als ob Stirins Körper am Boden klebt wie Haut in Hitze an anderer Haut. Er scheint Boden schleifen zu wollen, zu zu rollen, zu walken und zu falten, obwohl es sein Körper ist, der sich bewegt. Emotionen sind weder vorhanden noch abwesend. Stirins Existenz am Boden, von dem er sich ruckartig in einem Lichtkreis nach oben kämpft, erzählt schon genug. Und so setzt sich das Stück fort, mit ihm und Eunbin Kim, Dominik McAinsh, Sara Scarella und Camille Zany, die sich von rechts mit den Köpfen nach vorne, auf dem Bauch in ähnlicher Manier auf die Bühne schieben. Wie Stirin tragen sie sie hautfarbene, hochgeschlossene Shirts aus weichem Stoff mit überlangen Ärmeln, wie Stirin schauen sie zermürbt in die Welt, heben die Augen nach oben, als ob sie Gefangene sind, die nur auf die Erlösung warten. Ihre emotionale Matrix setzt sich zusammen aus seelischem und emotionalem Hunger, aus Bedürftigkeit, aus lange erfahrener Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit, aber auch und vor allem aus nicht vollzogener geistiger Entwicklung, die die Figuren in ihrer Unmündigkeit festhält. Musikalisch mischen sich Glockenschläge mit lang gezogenen, verzerrt klingenden typischen Sequenzen etwa aus Tachaikowskys „Schwanensee“ oder Songs.
Ähnlich verfährt Choreograf Jack Bennerman im dritten Stück unter dem auffallenden Titel „Kaufenland“. Sein Stück, angesiedelt unter Angestellten eines Kaufhauses, die beim Gong antreten und nach der Schicht wieder abtreten, ist in seiner Schrägheit, Schrillheit und Eigenwilligkeit vergleichbar mit jenem gewissen Etwas, das Felix Landerer auf die Bühne bringt. Und ähnlich wie Landerers Stücke fühlt es sich an wie ein aus grotesken Episoden aufgebauter Roman, bei dem man am Ende gar nicht mehr sagen kann, was er eigentlich erzählte, so eigenmächtig war das Setzen der Worte und der Bilder in ihm. Wirklich erzählerisch führt keine Szene zu einem Ende. Stattdessen werden in „Kaufenland“ Einkaufswagen geschoben, beklettert oder gar mit Wucht aneinander geknallt. Entweder wird hysterisch gelacht, oder es weinen plötzlich alle. Man hört das Brabbeln von Kindern oder die Töne, die das Ensemble, im Kreis sitzend, singt. Eleonora Pennacchini imitiert eine Mutter mit einem Baby auf dem Arm, und man weiß nicht, warum Mattia Serio sie dabei anschaut, auch wenn auch diese Szene wirkt. Aufklärung schafft ein Moment, in dem alle beieinandersitzen und die Fragen fallen, was der Unterschied zwischen Liebe und Besitz sei oder zwischen Liebe und Verlangen. Sie wissen es nicht. Wie in „I can´t help it“ spiegelt auch dieses Stück geistige Stagnation, Verrohung und Hoffnungslosigkeit. Als Tanzstück überzeugt jedoch auch dieses.
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