Joan Ferré Gomez zeigt: Der Mensch solle tanzen!

Gut einen Meter stehen sie voneinander entfernt und blicken sich einander in die Augen. Dann lassen sich Joan Ferré Gomez und Erika Poletto im selben Moment nach vorne fallen. Wie Säcke knallen sie leise aneinander und folgen der dadurch ausgelösten Bewegung bis zum Boden, mit den Körpern beisammen bleibend. Wie flache aufeinander liegende Steine wirken sie. Nach einer kurzen Weile stehen sie auf und wiederholen den ganzen Vorgang an anderer Stelle. Ihr Tanz hat den Anschein, als ob die beiden ein Kapitel einer üblichen Beziehungsgeschichte darstellen, in der sich beide voneinander entfremdet haben, aber noch füreinander da sind, in diskrete Machtspiele verstrickt. Doch dieser Eindruck täuscht. Zu wenig zeigen sie Gefühle. Emotionale, vom Zuschauer nachvollziehbare Spannung als Folge einer Kommunikation der Körper, bei der immer der eine auf den anderen reagiert, stellt sich nicht ein. Stattdessen fließen die beiden, immer wieder an Schultern, Rücken und Köpfen die Körperflächen des anderen  mit dem eigenen Körper suchend, durch den Raum. Mal werden sie immer schneller, mal verharren sie, mal lösen sie sich. Bis  Joan Ferré Gomez stehen bleibt, dann sich setzt und Erika Poletta dabei beobachtet wie sie alleine mit unaufgeregten, fließenden, nie eine Form aufsuchenden Bewegungen langsam davon geht. Währenddessen hatte eine Stimme den sphärischen, repetitiven Soundteppich abgelöst. Sie sprach vom Wasser, vom Werden und Vergehen. Poletta hatte sich in der eigenen Fantasie einem Kieselstein geglichen, der im Wasser von der Strömung abgetrieben worden war. So ungeformt dieses zwölf Minuten-Stück auch wirkte, so mächtig war seine Wirkung danach und so unmöglich ist es, Kritik zu üben. Denn Ferré Gómez hatte im Gegensatz dazu Tanz als Möglichkeit aufgezeigt, in der Welt zu sein und diese zu ertragen, indem man sich seines bedingungslosen Seins in ihm vergewisserte eben durch Tanzen. Sein Stück „Go Ask The River“, inspiriert von Hermann Hesses berühmten Roman „Siddharta“, aber auch von eigenen biographischen Umbrüchen, bildete den Mittelteil eines uneingeschränkt großartigen Tanzabends am Samstagabend bei Bernhard Fauser und Jai Gonzales vom Heidelberger UnterwegsTheater in der Hebelhalle. Tituliert als „Finale der tanzbiennale 021!“ und versehen mit dem Zusatz „Extreme Bodies“ bildete der dreiteilige Abend  vor allem einmal wieder ab, welch hohe kuratorische Kompetenz in Sachen Tanz in Heidelberg angesiedelt ist.

Atemberaubend: Jonglage und Ballett mit Cristiana Casadio und Stefan Sing

Dass Fauser und Gonzales selbst schon immer eine starke Nähe zum Thema Zirkus hatten, ermöglichte ihnen nonchalant, mit „tangram“, choreografiert und getanzt von dem Jongleur Stefan Sing und der Balletttänzerin Cristiana Casadio, eine weitere Rosine aus der weiten Welt des internationalen Tanzes für das zahlreich erschienene Heidelberg Publikum herauszupicken. Es raubte einem den Atem, zu sehen, wie sehr hier Jonglage, Choreografie und Tanz zu einem emotional packenden Duett zwischen Mann und Frau verschmolzen. Bälle in der Luft oder von einem Körper zum anderen geworfen oder über Arme, Beine, Köpfe, Rücken oder  Schultern gerollt, sogar im direkten Pas de deux, der zudem alle Gefühle und Emotionen darstellte, die ein Paar über einen langen Zeitraum hinweg miteinander erleben konnte, von der Liebe und Harmonie bis zum zunehmend stärker werdenden Machtkampf und der gegenseitigen Verletzung der Würde – Sings und Casadios Duet glich einem atemberaubenden Film, der nicht eine Minute Langeweile aufkommen ließ. Darüber Hinaus faszinierten die beiden Künstler in ihren jeweiligen Spezialitäten – Sing als souveräner, unzählige Bälle beherrschende Jongleur, der die zeitgenössische Art zu tanzen inhaliert haben muss, und Casadio als derart präzise und feine Tänzerin, wie man es nicht so häufig in der freien Szene sieht.

Hip Hop mit Weltklasse: Chey Jurado

Kongenialer Abschluss schließlich durch Chey Jurado. Hier genoss der Zuschauer tatsächlich Weltklasse-Niveau, was den Stil des urbanen Tanzes anbelangte. Jurado führte in seinem fast spartanisch zu bezeichnenden Solo vor, welche neuen Bewegungsmöglichkeiten dem Körper durch den urbanen Tanz abgerungen werden konnten. Allein sein körperliches Können, Bewegung durch den Körper fließen zu lassen und mit dem Boden in einer Art in Kontakt zu kommen, als ober ihn mit seiner Haut streicheln und liebkosen würde, nur um zwischendurch wie ein Delfin in die Luft hochzuschnellen, war Hochgenuss. Dass sein „Agua“ stellenweise dramaturgische Schwächen hatte, ist in diesem Fall tatsächlich zu vernachlässigen. 

Erschienen in der RHEINPFALZ am 02.08.2021. Fotos: Günter Krammer. Abgebildet: Chey Jurado.