Noch dreißig Minuten vor Vorstellungsbeginn schüttete es aus Eimern. Dennoch wagten sich nahezu alle, die Tickets reserviert hatten, hinauf aufs Heidelberger Schloss auf die Bäderterrasse, wo der neue Tanzabend von Ivan Perez angekündigt war: „Zusammen“. Zwei Duette, getanzt von Andrea Muelas Blanco und Arno Brys sowie von Yi-Wie Lo und Kuan-Ying Su. Jedes rund dreißig Minuten lang. Jedes eine Wucht, das zweite noch mehr als das erste. Jedes sowieso ein Geschenk des Himmels an diesem Abend.
Der Verzicht auf jegliches Bühnenbild und Licht, die Nähe zur Bühne und die einen umgebende Weite im gepflegten Schlosspark verführten, noch genauer hinzusehen. Mimik, Kondition, die Gestalt der Körper wurden genauso interessant wie die Choreografie selbst.
Zusammentanzen als Durchwehen eines Raumes
Ganz in weißen, durchsichtig schimmernden schlichten Kostümen betraten Muelas Blanco und Brys die Bühne. Den Blick in die Ferne gerichtet, umweht von einem Zahlen aufsagenden Stimmengewirr in hohen Tönen, glich ihr Zusammentanzen einem Durchwehen des Raumes. Mal waren sie getrennt, mal wieder vereint in einer Vielzahl von Formen, die sie in Folge unzähliger Hebungen, Sprüngen oder aus weiten, an Flügelschläge erinnernden Armbewegungen entstehen und wieder vergehen ließen. Die vorherrschende Qualität ihres Tanzens war offene Präsenz, nicht Emotionalität. Ihr Kräfteverhältnis zueinander beeindruckte durch Gleichwertigkeit. Inhalt in Form eines Ringens um Begegnung auf Augenhöhe war in diesem respektvollen, fast abstrakten Miteinander nicht vonnöten. Nico Muhlys Komposition „Mothertongue“, die dem Duett den akustischen Raum und Boden schenkte, erinnerte dabei an Teile von Philip Glass handlungsloser, berauschender Oper „Einstein on the Beach“ aus dem Jahr 1976, besonders an jene Partien, in denen Zahlen und Ziffern den Sprechgesang dominierten. „Flutter“, so der Titel dieses Stücks, das Perez 2018 für das renommierte Sadler´s Wells Theatre schuf und das nun endlich seine deutsche Erstaufführung erfuhr, erwies sich so auch als angenehme Referenz an die sogenannte Postmoderne im Tanz, wie sie in den 1960er und 1970er Jahren erblühte.
Zeigen was unter der Oberfläche lauert
Im Anschluss dann „Kick the Bucket“ , was im Englischen umgangssprachlich so viel wie „sterben“ bedeutet, und es ist das, was Ivan Perez auch seine Tänzer in dem Stück „Kick the Bucket“ widerfahren lässt. Perez ist er nicht der erste Choreograf auf der Welt, der im Rahmen eines Duetts eine Paarbeziehung beleuchtet. Doch selten hat es ein Choreograf es geschafft, derart nuanciert und präzise bis in die kleinsten Details die Dynamiken, Besonderheiten und wechselnden Kräfteverhältnisse zwischen einer Mann und einer Frau im Tanz zu zeigen. Das Geheimnis mag darin liegen, dass vor allem Kuan-Ying Su dem Stück von Anfang an eine Authentizität verleiht, die atemlos macht. Jede Sekunde seiner Begegnung mit Yi-Wie Lo scheint aus tiefstem Innern gefühlt, gelebt, erlitten, erhofft oder erkämpft. Es ist, als ob der Tanz keine Darstellung mehr ist, sondern ein intimes Ereignis, bei dem zwei Menschen realisieren, dass sie sich nicht gut tun, aber dennoch füreinander da sind. Hervorgebracht wird dieser Eindruck auch durch Gesten und Berührungen, die für Tanz scheinbar zu nah sind: das Streicheln des Kopfes des Partners, das Herausstreichen ihrer Haare aus dem verweinten Gesicht oder ihr sinnliches Wiegen auf seinem starren am Boden liegenden Körper; ihr Ritt auf ihm.
Su´s Charakter und Schicksal in dem Werk: der sensible, auch aber seelisch stärkere Part zu sein, dessen Mitgefühl ihn an sich selbst scheitern lässt; der erkennt, wie sehr sie ihn braucht, entgegen der nach außen hin demonstrierten Stärke; der versucht, aus eigenem Überlebenswillen, sie zu stärken, damit sie aus sich selbst stehen und gehen kann. Es gelingt aber nicht. „Kick the Bucket“ ist der beste Beweis dafür, zu was Tanz in der Lage ist: In kurzer Zeit alles zu zeigen, was hinter den Worten und unter der Oberfläche lauert.
Text: Alexandra Karabelas. Erschienen in der RHEINPFALZ am 28.06.2021
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